Das ist kein pures Gerede. Leah und Chloe Smith waren noch nie einfach nur Menschen, die Musik machen, sondern Musik auch als eine Form des Aktivismus verstehen. 2006 zogen sie nach New Orleans, um die Stadtbewohner*innen nach dem Hurrikan Katrina beim Wiederaufbau zu unterstützen. Als Teil einer Grass Roots Bewegung musizieren sie seitdem auf Gatherings, Demos und Festivals, „carrying harmony into settings of upheaval and discord“, wie es auf ihrer Website heißt. Ganz im Sinne ihres Songs „Wider Circles“, der Mut machen will, sich anderen zu öffnen und neue Gemeinschaften zu bilden, mit anderen ihre Gedanken und ihre Musik zu teilen. Mit ihrem Projekt R.I.S.E haben sie ein globales Netzwerk von Künstler*innen, Aktivist*innen,  u.a. geschaffen, die auf Festivals und Straßenpartys gemeinsam performen und Workshops geben, sie kollaborieren außerdem mit dem Permaculture Action Network.

Und obwohl die Band bis vor wenigen Jahren alles selbst machte und bis heute nur ein kleines Management-Team hat, hat sich ihre Musik herumgesprochen. Sie spielen häufig in ausverkauften Hallen und auch die Presse ist aufmerksam geworden: Der Rolling Stone listete sie im Mai unter die “10 New Country Artists You Need to Know”. Als ich am Konzertabend das Frankfurter BETT betrat, hatte ich davon keine Ahnung und vorher nur kurz in zwei Songs reingehört. Als Opener war Temple Haze eingeladen, ein US-amerikanischer Singer-/Songwriter, der seit geraumer Zeit in Berlin lebt. Dass er auch als Yogalehrer arbeitet, erfahren wir nach einiger Zeit, und es erklärt, warum das Publikum seine Musik zunehmend im Sitzen genießen wollte. Seine sehr freie Art zu singen, seine Ausdrucksstärke und sein akzentuiertes Gitarrenspiel waren beeindruckend, aber eher geeignet, den Puls zu verlangsamen und sich nach einer bequemen Couch zu sehnen.

Nach seinem Set und einer kurzen Pause begannen Leah und Chloe Smith ihr Konzert mit einem A Cappella-Stück, das vom Publikum mit Begeisterung gewürdigt wurde. Schnell wurde klar, dass die beiden mit ihrem zweistimmigen Gesang über ein großes Maß an künstlerischem Potential verfügen. Zwei wunderschöne Klangfarben, die sie in ihren Arrangements interessant variiert und verfeinert haben, die zugleich kontrastieren und perfekt zusammenpassen. Mit Wechselgesang, harmonisch toll gesetzten Stimmen und fast schon percussivem Einsatz der Stimme und des Atems werden sie mich im Laufe des Abends immer wieder auch an Zap Mama erinnern. Nach dem ersten Stück greifen sie zu Gitarre und Banjo und später auch zu Fiddle und Rahmentrommel, ganz in der Tradition der traditionellen Musik der Appalachen, mit der sie aufgewachsen sind. Es ist diese traditionelle Musik, auf die sie sich berufen, die sie in ihren 13 Jahren gemeinsamer Bandgeschichte mit neuen Einflüssen vermischt haben.

Rising Appalachia (von re nach li: Biko Casini, David Brown, Leah & Chloe Smith)

Beim zweiten Stück kommen David Brown am Kontrabass und an der Gitarre sowie der Percussionist Biko Casini auf die Bühne, dessen Spiel eine nähere Betrachtung wert ist. Neben der Djembe spielt er ein Instrument, das aussieht wie ein aufgeschnittener Gymnastikball, es ist eine sog. Takamba Kalebassen-Trommel. Darauf schlägt er mit den Fäusten ein, hält dabei eine Rassel u.ä. in der Hand, was sich dann zusammen wie ein Schlagzeug anhört und gewaltig groovt. Die Band spielt schnellere Nummern wie „Find Your Way“ oder „Wider Circles“ und das vorwiegend weibliche Publikum tanzt begeistert. Natürlich spielen sie auch ihren „Hit“ „Medicine“, den ich seit dem Konzert als Ohrwurm fröhlich mit mir herumtrage.

Vieles strahlt eine friedvolle Stimmung aus wie das grandiose „Lean In“ oder „Scale Down“, wo die Stimmen der beiden Schwestern sich wie Balsam auf die Seele legen. Ich weiß nicht, ob es nur mir so ging, aber ich hatte das Gefühl, dass Hoffnung in der Luft liegt: kann es sein, dass wir doch von einer schöneren Welt träumen dürfen und dass es viel mehr Gleichgesinnte gibt, als wir denken? Ihre neuste Single “Resilient” macht genau das zum Thema: wie können wir der Politik der Angst, die uns entmutigt, Widerstand leisten und uns immer wieder engagieren und für Vielfalt einstehen?

It’s about remembering that difficult times are the makeup of each of us, and we have the opportunity to triumph over that. This song came like wildfire from our hearts and found its way to the page on its own. Now, we sing it to the world and send it to anyone needing to be reminded of their own resilience,” sagt Chloe Smith über den Song. „It’s about Standing Rock, it is about the Prison justice movement, it is about urban mural projects and bike cooperatives and re-wilding efforts and front porch gardens… it is about land preservation and indigenous rights and the crossroads between arts, justice and tradition”, ist von Leah Smith zu lesen.

Nicht alles ist in Englisch, da sind das spanische „Caminando“ und ein bulgarisches Lied namens „Zavidi Me Lalino“, das die schöne Reibung der traditionellen Gesangskunst Bulgariens offenbart. Am Ende erklingt „Downtown“, wo sich HipHop in Leahs Gesang mischt und ein noch kämpferischer Ton Einzug hält. Keine Frage, mit dieser Band kann frau nicht nur einen tollen Abend verbringen – sie hat das Zeug, Menschen zusammenzubringen und Veränderung ins Rollen zu bringen. Während ich dies schreibe, höre ich in den Nachrichten vom befürchteten Wahlsieg der Rechtspopulisten in Schweden (!). Da hilft nur noch Musik: „I am resilient | I trust the movement | I negate the chaos | uplift the negative | I’ll show up at the table | again and again and again | I’ll close my mouth and learn to listen“, heißt es in dem Song „Resilient“. Er wird in den nächsten Monaten noch oft bei mir zu hören sein.

Tourtermine:
09.09. Lido/Berlin
12.09. Studio Foce/Lugano (CH)
13.09. Alhambra/Genf (CH)
14.09. Volkshaus/Zürich (CH)

http://www.risingappalachia.com/

(Titelfoto: Chad Hass)

In den 17 Bands und Formationen, die in Hilden auftraten, waren Frauen nur sechs Mal vertreten. Dafür war dann der letzte Festivaltag stark von Frauenstimmen geprägt. Ein weibliches „Grande Finale“ sozusagen.

Nachdem die Band Forsonics (nur Musiker) den letzten Tag mit wunderbaren relaxten Sounds und coolen Klängen eröffneten und für eine chillige Stimmung im Park sorgten, hatten die Damen ihre Auftritte. Im zweiten Konzert des Tages trat die niederländische Sängerin Fay Claassen mit ihrer Band auf. Mit Stücken aus ihrem neunten Album „Luck Child“, für das sie am 6. Juli mit dem Edison Jazz Award (dem renommierten niederländischen Jazz Preis) in der Kategorie Vocal ausgezeichnet wird, erfreute sie das Open-Air Publikum im Capio Park. Als Überraschungsgast trat ihr Mann, der Saxofonist Paul Heller auf. Zusammen gaben sie einen Love-Song zum Besten, welchen er für sie als Geburtstaggeschenk komponiert hat. „Finding You“ hieß die gesungene und am Saxophon geblasene Liebeserklärung, die ein total gerührtes Publikum hinterließ. Mit einem Lied ohne Worte rund um das melodische Thema der Filmmusik von Cinema Paradiso endete das wunderbare Konzert.

Danach war die US-Amerikanerin Audrey Martells (Titelfoto) mit dem genialen Walter Fischbacher Trio an der Reihe. Die New Yorkerin hat in der Vergangenheit für Jazz-Größen wie George Benson und Randy Crawford Songs geschrieben. Als Back-up Sängerin trat sie bereits mit Celine Dion, Mary J. Bilge und Joan Osborne auf – um nur einige der musikalischen Berühmtheiten zu nennen, mit denen sie gearbeitet hat. Dass sich diese Stimme nicht im Hintergrund zu verstecken braucht, wurde dem Publikum im sommerlichen Park sehr deutlich. Kraftvoll und facettenreich intonierte sie nicht nur eigene Songs wie „Sweet Regine“, ein bluesiges Stück über eine frühreife 17-Jährige, sondern gab auch sehr eindrucksvolle Interpretationen von bekannten Stücken zum Besten, darunter George Bensons „On Broadway“. Auch ein kritischer Song über ihren gegenwärtigen Präsidenten fand in ihrem Repertoire Platz.

Die Jazz-Tage endeten mit einem sehr ungewöhnlichen Konzert im Fabry Museum, das zwischen 1864 und 1979 eine Kornbrantweinbrennerei beherbergte. In diesem einzigartigen Ambiente, inmitten von alten Korn-Fässern, trat die Schweizer Sängerin und Stimmakrobatin Sarah Buechi auf, begleitet vom Schlagzeuger Christoph Haberer. Die beiden präsentierten ihr neuestes Projekt „Duality“. Zu hören waren ungewöhnliche Töne – Scats und Melodien – die ein Duell mit Schlagzeug und Percussion Pad eingingen. Von ganz hoch, mädchenhaft sanft und lieblich über warm und rauchig bis tief knurrend und guttural waren die Töne, die Sarah Buechi hervorbrachte, wobei ihre Stimme in dem engen Raum mit niedriger Decke leider immer wieder von Schlagzeug und Pad übertönt wurden. Beeindruckend war es schon dennoch zu erleben, wie wandlungsfähig sie ihre Stimme einsetzte. Von draußen, im Innenhof vor dem Gebäude, wo das ganze Volumen ihrer Stimme mehr Raum hatte, klang das Dargebotene dann auch sehr viel besser. (Fotos: Autorin)

Tina Adomako