Das Programmteam (Olaf Stötzler, der Manager der hr-Bigband, Claus Gnichwitz und Jürgen Schwab, beide hr2-Jazzredaktion), wurde durch ein neues Organisationsteam (Frank Lauber, Janina Schmid und Tim Wirth) erweitert. Die Eröffnung in der Alten Oper wurde aus Kostengründen gestrichen und wieder in den hr-Sendesaal verlegt. Hier fanden drei Konzertabende statt, davon am Mittwoch und Donnerstag mit je 2 Acts und am Samstag – wie früher – mit 3 Ensembles. An den Abenden mit Doppelkonzerten konnten die Bands ein Set von mind. einer Stunde plus Zugabe spielen. Da ohne Pause, geriet dies (je nach Geschmack) etwas anstrengend. Neu war die Clubnacht am Freitag: fünf parallele Konzerte in den Jazzlocations der Stadt (Jazz-Initiative in der Romanfabrik, Alte Seilerei mit „Fabrik außer Haus“, Milchsackfabrik, Jazzkeller und Jazz Montez). Das Abschlusskonzert fand, wie in den Vorjahren, am Sonntag im Mousonturm statt.

Bemerkenswert war eine neue inhaltliche Gewichtung in Bezug auf die stärkere Präsentation von Musikerinnen, und zwar nicht in quantitativer sondern qualitativer Hinsicht. Bei 3 von 4 Konzerten an den beiden ersten Tagen waren die „wichtigen“ Rollen in den Bands von Musikerinnen besetzt. So trat im Eröffnungskonzert die hr-Bigband unter der Leitung von Theresia Philipp und mit der Pianistin Julia Hülsmann als gefeaturete Gastsolistin auf. Julia Hülsmann, die preisgekrönte Grande Dame der deutschen Jazzszene, hatten wir schon 2001 als Dozentin für die 4. Frauen Musik Woche engagiert. Damals stand sie in den Startlöchern ihrer Karriere. Als Solistin am Klavier eröffnete sie jetzt mehr als 20 Jahre später, gemeinsam mit der hr-Bigband und der vielversprechenden jungen Dirigentin Theresia Philipp das Jazzfestival. Gerade hat diese den WDR-Jazzpreis für Komposition erhalten. Kompositionen von Julia Hülsmann, von ihr arrangiert für das Konzert mit der Bigband sowie zwei Arrangements von Theresia Philipp bildeten das Thema des Auftritts.

 

Foto links Theresia Philipp: © hr/Lukas Diller, Foto rechts Julia Hülsmann: © hr/Peter Hundert

 

Den zweiten Abend prägten zwei Saxofonistinnen: Die deutsche Tenor- und Sopransaxofonistin Ingrid Laubrock ist in New Yorks Avantgarde-Szene zuhause und kam mit ihrem Quartett angereist. Ebenfalls aus New York kam die Altsaxofonistin Lakecia Benjamin mit ihrem Quartett, mit dabei die Pianistin Miki Hayam. Mit ihrem Konzert würdigte Benjamin das Vermächtnis der Coltranes, und zwar dezidiert nicht nur John’s, sondern auch dessen unter Kennern hoch geschätzter Gattin, der Harfenistin, Pianistin und Organistin Alice Coltrane. Das allein ist schon eine bemerkenswert feministische Note ihrer Musik, denn sicher hatte bis zu diesem Konzert kaum jemand der Besucher*innen (wie auch ich) etwas von Alice Coltrane gehört! Dafür vielen Dank an die Musikerin. Am Samstag beschloss der Oud-Virtuose Rabin Abou-Khalil mit seinem Quintett, zu dem die Sängerin Elina Duni gehört, den letzten Abend im hr-Sendesaal.

 

Foto links Ingrid Laubrock: © hr/Caroline Mardok, Foto rechts Lakecia Benjamin: © hr/Elizabeth Leitzell

 
Diese Präsenz der Frauen war auffallend und bedeutet eine Aufwertung in der Wahrnehmung der Jazz-Musikerinnen in Deutschland und international! Eine erfreuliche Entwicklung nach Jahren der kaum vorhandenen Beachtung von Frauen bei der Festivalkonzeption – und auch bitter notwendig. In den letzten Jahren kamen immer mehr kritische Nachfragen – auch von männlichen Besuchern, warum so wenige Frauen auf der Bühne stünden. Und spätestens seit der Keychange-Initiative des Hamburger Reeperbahn-Festivals (die eine 50 %-Quote fordert) wird deutlich, dass sich die Zeiten geändert haben und dass auch Veranstalter*innen von Festivals den veränderten Gegebenheiten Rechnung tragen sollten. Denn es gibt sie inzwischen in großer Zahl: die hochqualifizierten, talentierten Jazzmusikerinnen und ihre großartigen Projekte.
 
Im Jahr 2019 hatten wir uns schon einmal gefreut: Zum 50jährigen Jubiläum des Festivals präsentierten die Veranstalter die „German All Stars“ mit einer überwiegend weiblichen Besetzung: Angelika Niescier | Alto Saxophone, Johannes Lauer | Trombone, Ronnie Graupe | Guitar, Julia Kadel | Piano, Eva Kruse | Bass und Eva Kresse | Drums. Beim 1. Deutschen Jazzfestival 1953 waren die „Deutschen All Stars“ die Headliner des Festivals, eine Zusammenstellung der besten deutschen Instrumentalisten – allesamt männlich. 

Wir hoffen, dass die zu beobachtende Neuausrichtung konsequent fortgeführt wird und 2022 nicht nur ein Zufall war! Deshalb schlagen wir vor: Solange nicht die Hälfte der auftretenden Musiker*innen weiblich ist, sollten 50 % der Acts von Bandleaderinnen geführt bzw. die Musik maßgeblich von ihnen gestaltet sein oder die Bands sind paritätisch besetzt!

 

Foto Julia Hülsmann (li), Theresia Philipp (re) & hr Bigband @ Deutsches Jazzfestival 2022: © hr/Sascha Rheker

Inzwischen wissen wir, auch wenn sich die Macher*innen des hr-Jazzfestivals um mehr Musikerinnen in der Bigband und beim Festival bemühen (s. Report): Insgesamt müssen sich Prioritäten, Strukturen und Netzwerke der bestehenden Musikszene verändern, sonst erreichen wir nichts oder nur sehr sehr langsam und sehr, sehr wenig in den nächsten Jahren.

Titelfoto Lakecia Benjamin @ Deutsches Jazzfestival 2022: © hr/Sascha Rheker