Wo bleiben die Komponistinnen der Neuen Musik?

Ein Interview mit den Ensemble Modern-Mitgliedern Nina Janßen-Deinzer und Uwe Dierksen

„Wie viel ‚Frau‘ darf – oder soll – es denn nun sein?“, könnte man sich zurzeit ironisch fragen. Diskussionen über die Position und die Rolle der Frau durchziehen den gesellschaftlichen Diskurs wie selten zuvor. Zu nennen wären die Debatten über das Betreuungsgeld, die Quotenregelung von Frauen in Führungspositionen, die ineffektive „Flexi-Quote“ der Familienministerin Kristina Schröder und die Diskussionen über ihr Buch „Danke, emanzipiert sind wir selber!“, die uns Frauen und Müttern, frei nach dem berühmten Ausspruch der französischen Kaiserin Marie Antoinette „Dann soll das Volk doch Kuchen essen!“ zuruft: „Dann arbeitet doch eben in den von euch angestrebten Positionen!“ Diskussionen über die Verortung der (deutschen) Frau also, wohin das Auge reicht. Zeit für MELODIVA nachzuforschen, wie es sich mit dem Anteil der weiblichen Komponisten verhält, beispielsweise in den Konzertsälen der Neuen Musik.

Ausgangspunkt für unsere Autorin Sandra Müller-Berg war ihre Besprechung des Buchs „Towards a Twenty-First-Century Feminist Politics of Music“ der australischen Musikwissenschaftlerin Sally Macarthur. Macarthur stellt fest, dass es in der Szene der Neuen Musik (also der „E-Musik des 20./21. Jahrhunderts“) immer noch sehr wenige Komponistinnen gibt, die sich nachhaltig etablieren können. Die Werke weiblicher Komponisten werden im Verhältnis zu denen der männlichen Kollegen nur sehr selten aufgeführt, obwohl das Verhältnis von weiblichen und männlichen Kompositionsschülern in den Hochschulen recht ausgeglichen ist. Macarthur sieht eine Ursache darin, dass Musik mit einem männlich dominierten Zugang wissenschaftlich analysiert wird. Die Werke von Komponistinnen fielen so schon durch eine Art „Raster“, sodass es letztendlich nur selten zu deren Aufführungen käme. Sandra Müller-Berg machte sich auf den Weg, einige von Macarthurs Thesen mit zwei Mitgliedern des Ensemble Modern in Frankfurt zu diskutieren. Im Folgenden finden sich Auszüge aus dem Interview mit der Klarinettistin Nina Janßen-Deinzer und dem Posaunisten Uwe Dierksen.

Erst einmal herzlichen Dank, dass Sie zu diesem Interview erscheinen konnten. Danke, für Ihre Bereitschaft! Inhalt des Interviews sollen zunächst einmal ein paar zentrale Thesen aus dem Buch von Sally Macarthur sein, mit denen ich Sie gewissermaßen gerne konfrontieren möchte. Worum geht es in Macarthurs Buch? Verallgemeinernd geht es um die Rolle – oder um die Aufstellung – der Komponistin im 21. Jahrhundert, die Macarthur analysiert und darüber hinaus versucht, Erklärungsmodelle für einige Phänomene zu finden. Sie stellt fest, dass es in Australien – und auch in Nordamerika – in den Kompositionsklassen viele Studentinnen gibt, und dass es auch sehr viel mehr Musikerinnen gibt als noch vor einigen Jahren, also dass es im unteren universitären Bereich viele Frauen gibt. Aber es gibt eine eklatante Diskrepanz zwischen der hohen Anzahl der Kompositionsstudentinnen und den niedrigen Aufführungszahlen ihrer Werke. In den Konzertsälen scheinen die Komponistinnen plötzlich zu verschwinden. Mich würde interessieren, welche Beobachtungen Sie in der zeitgenössischen Musikszene Europas gemacht haben. Wie hoch ist Ihrer Meinung nach der Anteil von Komponistinnen in Ihren Konzerten beziehungsweise in der hiesigen Szene?

Uwe Dierksen (Foto: Manu Theobald)

Uwe Dierksen: Ich habe gerade mal innerlich gescannt, welche Komponistinnen ich kenne und wie in welcher Häufigkeit ihre Werke aufgeführt werden. Also zunächst fällt mir Lisa Lim ein, eine Komponistin, die schon relativ früh, etwa vor zwanzig Jahren, bekannt geworden ist. Dann natürlich Isabel Mundry und andere. Dennoch würde ich Ihnen beziehungsweise Macarthur Recht geben, die statistische Quote von den aufgeführten Werken weiblicher Komponisten ist in der Unterzahl. Wie das Zahlenverhältnis aufgeführte Werke männlicher kontra weiblicher Komponisten ist, würde ich aus dem Bauch 80/20 sagen. Aber das mag auch völlig falsch sein.

Nina Janßen-Deinzer: Das ist viel niedriger (…)Was wir in den letzten Jahren gespielt haben, darunter war vielleicht ein Stück von Un-suk Chin, hin und wieder mal ein Stück von Rebecca Saunders, und eine Gemeinschaftskomposition mit einer anderen Komponistin. Dann haben wir noch etwas von Olga Neuwirth gespielt. Allein in den fünf, sechs Jahren, in denen ich beim EM dabei bin, kann ich an zwei Händen aufzählen, wie viele Werke wir von Komponistinnen gespielt haben – und das bei der Vielzahl an Konzerten.

Nina Janßen-Deinzer

Welche Ursachen könnten für diese Diskrepanz Ihrer Meinung nach verantwortlich sein? Macarthur stellt in ihrem Buch die etwas atemberaubende These auf, dass Komponistinnen tendenziell nicht die „brutalen und dissonanten musikalischen Sprachen und Techniken der postseriellen, atonalen Musik“ anwenden würden. Da aber im Musikbetrieb die serielle Richtung dominierte, könnten sich Komponistinnen nicht erfolgreich etablieren. Ist Ihrer Meinung nach an dieser These etwas dran?

Uwe Dierksen: (…) Diese These ist schon lange ad acta gelegt worden und auch musikwissenschaftlich widerlegt. Ich möchte das eher umkehren, dass seit mittlerweile 20 Jahren eine bestimmte Offenheit und ein Freiheitsbegriff herrschen, um etwas Neues zu schaffen. Es ist die Herausforderung von heute, dass alles (Kompositionsstile, Anm. d. Red.) vorhanden ist und man seinen Stil erst finden muss. Es gibt kein Tabu mehr zu brechen, aber es gibt auch keine neue Technik mehr zu erfinden. Das ist eine Schwierigkeit, aber auch eine Freiheit. Wenn es einen spezifischen „Frauenstil“ gibt oder eine feminine Seite, dann könnte man die ja auch in einem bestimmten Kompositionsstil emanzipieren, spezialisieren oder fokussieren. Ich denke, dass da schon eine große Offenheit herrscht, das muss ich ganz ehrlich sagen.

Nina Janßen-Deinzer: Ich glaube aber ehrlich gesagt nicht, dass wenn man ein Stück hört und nicht weiß, von wem das ist, dass man das hört, das ist von einer Frau oder von einem Mann. (…)

Wie verläuft denn der Weg von einem Kompositionsschüler zum Komponisten, der seine Werke aufführen lassen möchte? Welche Hürden oder Meilensteine gibt es auf dem Weg, bis er sein Werk im Konzert hören kann?

Nina Janßen-Deinzer: Da gibt es ziemlich viele Faktoren, die Qualität muss stimmen, dann gehört sicherlich eine Portion Glück dazu, dass er die Möglichkeit dazu hat, gespielt zu werden, wo es jemand hört, der sich dann auch um ihn kümmert. Qualität allein reicht nicht, es muss aber die Grundbedingung sein.

Gehört auch ein Netzwerk dazu? Dass in dem Moment auch die richtige Person das Werk hört?

Uwe Dierksen: Ja, das ist aber auch viel Eigeninitiative. (…) Wir sehen das ja auch beim Ensemble Modern, wie viele Leute da aktiv werden, um weitere Ensembles zu bilden. (…) Ich glaube, bei Komponistinnen ist es ähnlich. Sie haben mittlerweile eine sehr viel größere Chance gespielt zu werden, weil viele Ensembles nicht die Komponisten spielen, die von den großen etablierten Orchestern gespielt werden, sondern die Nachwuchsriege zeigen. Und davon gibt es doch eine ganze Menge. Der Schritt zu einem großen Auftritt ist noch ein anderer. Sie müssen dann am Ball bleiben und das sozusagen aus eigener Kraft machen. (…)

Nina Janßen-Deinzer: Für die Orchester der Neuen Musik ist die Situation schon sehr schwierig. Es stehen im Grunde 100 Komponisten vor der Tür, die wollen, dass wir sie spielen. Da schafft man es oftmals nicht mal, überhaupt zu antworten oder zu sagen, „Ich finde das eigentlich gut, aber ich hab jetzt keine Möglichkeit“. Komponisten schreiben oftmals auch ein Stück für Musiker, in der Hoffnung, dass man es spielt. Aber man kann nicht Konzerte akquirieren, um die verschiedenen Komponisten zu spielen. Diese haben es schwer. Vielen wird, glaube ich, geholfen, wenn sie bei einem wichtigen Lehrer studieren. Diese Lehrer sitzen wieder in Gremien für Förderpreise. Diese Chance sollte man nutzen. Aber Eigeninitiative ist wirklich sehr wichtig, weil die, die zwar gut sind, aber zuhause sitzen und warten, dass jemand auf sie zukommt, umsonst warten. (…)

Würden Sie es im Zuge der Diskussionen über die Quotenregelung für Frauen in Führungspositionen befürworten, eine Quotenregelung für Komponistinnen zu installieren?

Nina Janßen-Deinzer: Ich finde es natürlich traurig, dass Qualität nicht reicht und dass man sich überhaupt solche Gedanken machen muss. Aber ich möchte nie eine Quoten-Frau sein, das ist was Entsetzliches! Ich glaube auch nicht daran. Wenn solche Gesetze gemacht werden, wird gleich versucht, sie auszuhebeln.

Uwe Dierksen: Ich finde eine Quote als Ziel eigentlich idiotisch, denn eine Quote wird niemandem gerecht, am wenigsten einer Frau, um die es gehen könnte. Letztendlich weiß ich aber auch nicht, warum so wenige Komponistinnen mit ihren Werken präsent sind, denn Frauen haben per se natürlich die gleiche Qualität. Insofern muß man sich einfach wundern, dass es viel seltener Musik von Frauen in den Konzertsälen erklingt. Also wenn ich wirklich gute Musik schreibe, dann braucht man noch das berühmte Quäntchen Glück, dass man auch noch entdeckt wird. (…)

Aber oft setzt sich auch Qualität bei Komponistinnen nicht durch. Ich erinnere mich an die belgische Komponistin Jacqueline Fontyn, Jahrgang 1930, die hervorragende Werke mit filigranen Klangfarben schafft. Ich habe zeitweise ihre Karriere verfolgt. Eine der wenigen Rezensionen über eines ihrer Werke war voll von tendenziösen, unwissenschaftlichen Äußerungen, frei nach dem Motto „Ist das Stück von einer Komponistin, dann reichen doch ‚poetische‘ Beschreibungen statt einer handfesten Analyse.“

Uwe Dierksen:Ich glaube, dass es in Frankreich anders ist als in Deutschland. Aber um hier in Deutschland zu bleiben, es gibt doch hier so viele Veranstalter, die bewusst suchen und auch Frauen eine Chance geben. Irgendwie haben wir ja alle das Gefühl, dass doch eine Diskriminierung stattfindet und sehen hier in Deutschland dann auch bewusster auf Komponistinnen. Also z.B. Elena Mendoza, die hat jetzt auch einen Preis gekriegt (Förderungspreis Salzburg 2011, Anm. d. Red.). Es gibt hierzulande viele Veranstalter, die offen sind, z.B. Harry Vogt vom WDR. (…)

Ich würde Ihnen gerne eine Tabelle zeigen. Die Statistik stammt vom Zentrum für kulturelle Forschung und legt die Anzahl der Werke von männlichen/weiblichen Komponisten dar. In der Konzertsaison 1999/2000 wurden von den führenden sechs deutschen Orchestern lediglich vier Werke von Komponistinnen aufgeführt gegenüber von 310 Werken der männlichen Kollegen. In der Saison 2001/2002 sah es sogar noch schlechter für die Kolleginnen aus, es wurden nur zwei Werke von ihnen aufgeführt. (…)

Nina Janßen-Deinzer: Also ich verstehe, dass man drüber nachgedacht hat, Quoten einzuführen, auch wenn das jetzt nicht die Lösung ist, aber es ist sicherlich gut, die Probleme überhaupt anzusprechen. Was halten Sie denn von einer Quote für Komponistinnen?

Meine persönliche Meinung ist, dass ich auch nicht gerne eine Quotenfrau wäre, aber wenn ich sonst keine Möglichkeit hätte, in eine Position hineinzukommen, ist es mir lieber, ich komme über die Quote rein. Außerdem gibt es ja seit Jahren eine „heimliche“ Männerquote, also kann es doch auch eine Frauenquote geben. Es geht ja auch darum, dass man als Komponistin oder Dirigentin auch erstmal in die Lage kommen soll, gehört zu werden.

Uwe Dierksen: Da kommen wir wieder an die Stelle, wo ich vorhin schon gesagt habe, dass in der Musik und in der Komposition Qualität der einzige Maßstab ist.

Nina Janßen-Deinzer: Ja, so sollte es sein, aber ist es tatsächlich so? (…)

Frau Janßen-Deinzer und Herr Dierksen, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Bereitschaft, mit mir dieses Interview durchzuführen.

„Towards a Twenty-First-Century Feminist Politics of Music“ von Sally Macarthur (2010), Ashgate: http://www.ashgate.com/isbn/9781409409823

Weitere Infos: http://www.ensemble-modern.com/
http://www.archiv-frau-musik.de
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Komponistinnen

(Titelfoto: www.syntoma-musikproduktion.de)

Autorin: Sandra Müller-Berg

15.05.2012