Michelle Branch / USA

Mit 17 hat man noch Träume...

”Nach allem Erfolg, den ich schon hatte, bedeuten mir die Mails meiner Altersgenossen immer noch am meisten, die mir erzählen, dass ich sie zum Musikmachen inspirierte.”
Der Satz stammt nicht, wie man vermuten könnte, aus dem Mund eines langjährigen Akteurs aus dem Musikgeschäft. Michelle Branch hat mit ihren 18 Jahren eine Menge erreicht. Und was ihr noch viel wichtiger erscheint: Sie hat sich dafür nicht verbiegen lassen. Davon können manch ältere Musiker nur träumen, und die sind meist nicht mehr 17.

Unter Vertrag bei ”Madonna”

Wie viele hoffnungsvolle Musikerinnen und Musiker träumen nicht davon, einen Plattenvertrag mit Madonnas »Maverick Recording Company« zu bekommen?
Und mal ehrlich, wer würde nicht alles dafür tun, seine Musik von »Lady Madonna« für gut befinden zu lassen? Michelle Branch hat beides bekommen. Ihr Major-Debut »The Spirit Room« ist bei Maverick erschienen, und Madonnas Ritterschlag für ihre Songs gab’s obendrein. Für eine 18-jährige hat Michelle ganz schön viel erreicht. Doch wo andere vor lauter Glück wahrscheinlich kurzzeitig überschnappen würden, zeigt sich Michelle Branch unbeeindruckt.
”Das Komische ist, dass ich überhaupt kein Madonna-Fan bin. Bevor ich den Vertrag mit Maverick bekam, besaß ich nicht eine Madonna-Platte. Natürlich kenne ich ihre Songs aus dem Radio, aber richtig angesprochen hat mich ihre Musik nie. Ich traf sie vor ihrem Konzert in New York City im letzten Jahr, und das war schon irgendwie beeindruckend. Sie erzählte, wie gut ihr mein Album gefallen würde, was natürlich ein besonders schönes Kompliment war. Ansonsten war sie aber völlig normal. Inzwischen schaue ich natürlich zu ihr auf, denn das anschließende Konzert hat mich ob ihrer Professionalität umgehauen, und sie ist wirklich eine unglaublich intelligente Geschäftsfrau.”

Wie es anfing

Rückblende: Michelle Branch wuchs im verschlafenen Nest Sedona, im amerikanischen Bundesstaat Arizona auf. Schon mit vier Jahren begann sie zu singen. Ein Schlüsselerlebnis war ihre Fehlinterpretation des »Beatles«-Evergreens »Ticket To Ride«.
”Meine Eltern hörten unglaublich viel »Beatles«, und dieser eine Song hatte es mir besonders angetan. Ich verstand den Text dazu nie richtig und dachte immer, sie würden `She’s got a Chicken to Ride‘ singen. Behämmert, oder? Ein Huhn zum Fahren? Als ich dann herausfand, worüber die »Beatles« wirklich sangen, war ich so enttäuscht, dass ich mir schwor, selber Songs zu schreiben.” Gesagt, getan. Stark beeinflusst vom klassischen Rock der 70er Jahre und Bands wie »Led Zeppelin« und den »Rolling Stones«, aber auch von Solo-Künstlern wie Cat Stevens und Sarah McLaughlan, schrieb Michelle ihre ersten eigenen Songs. Damit sie die eigenen Songs auch richtig interpretieren konnte, nahm sie im Alter von acht Jahren Gesangsunterricht. Mit 14 Jahren bekam sie ihre erste eigene Akustikgitarre.

Das Spielen brachte sie sich selbst bei

Fortan tingelte sie in jeder schulfreien Minute durch Arizona, um alle und jeden von ihren Songs zu überzeugen. Mit wachsendem Erfolg, aber auch mit Niederlagen, wie sie sich erinnert. ”Es gab viele Leute, die meine Musik toll fanden, aber ich stieß längst nicht überall auf offene Ohren. Viele Clubbesitzer lehnten meine Auftritte ab, weil sie mich für zu jung hielten. So ein Blödsinn! Wenn 34-jährige dort auftreten können, warum sollte es dann eine 16-jährige nicht auch können? Wenn ich den toniq-Leserinnen und Lesern einen guten Tipp geben darf: Lasst euch von Niederlagen nicht entmutigen! In mir schärften solche Momente nur den Drang, es denen zeigen zu wollen.” Sie zeigte es ihnen, indem sie – unterstützt von ihren Eltern und mit ihren eigenen Ersparnissen – eine Platte aufnahm, die sie im Eigenvertrieb verkaufte. Inzwischen schon in ganz Arizona bekannt, traf sie bei einem Talentwettbewerb auf ihren zukünftigen Manager, der ausnahmsweise vom ersten Hören ihrer Songs an auf das Talent von Michelle baute.

Wie es ist

Damit befinden wir uns wieder im Hier und Jetzt, und Michelle ist unglaublich stolz auf ihren bisherigen Erfolg. In Japan und den U.S.A., wo ihr erstes »richtiges« Album »The Spirit Room« bereits veröffentlicht wurde, gibt ihr der Erfolg, was den Glauben an sich selbst betrifft, recht.
Platin in Japan und Gold in Amerika ist verdammt gut für eine Newcomerin. ”Und weißt du worauf ich besonders stolz bin? Ich bin zwar erst 18 Jahre alt, aber ich schreibe meine eigenen Songs und muss sie nicht mit dem Plastik-Pop à la Britney Spears vergleichen lassen.
Ich mache keine Dance-Songs, sondern handgemachte Rocksongs.

Und ich hoffe einfach, dass durch meinen Erfolg andere Leute in meinem Alter dazu ermutigt werden, ernsthaft eine Karriere als Musiker zu beginnen.
Es ist nicht unmöglich, es zu schaffen, wenn man nur konsequent genug daran arbeitet und an sich selbst glaubt.
Ich weiß, dass es viele talentierte junge Musiker gibt, die zuhause sitzen und die es auch schaffen können. Vielleicht betrachten sie mich als eine Art Vorbild, was cool wäre.”
In den U.S.A., wo ihre erste Single »Everywhere« von null auf Platz 12 der Top 100 schoss, wird ihre Musik bereits mit der von Alanis Morissette, Sheryl Crow und Lisa Loeb verglichen. Und das Rolling-Stone-Magazin jubelte ob ihres Debut-Albums und bezeichnete sie ”als eines der vielversprechendsten Songwriting-Talente der letzten Jahre.”
Doch Michelle winkt schon wieder ab.

”Ich habe noch viel vor mir“

Natürlich schmeichelt mir das Lob, aber ich bin erst 18 Jahre alt und will auch mit 50 Jahren noch Musik machen. Mein Gott, worüber kann ich denn schon singen? Ich habe doch noch kaum Erfahrungen im Leben gemacht. Alanis, Madonna und all die anderen können über alles mögliche singen. Ich kann mich momentan gerade mal auf universelle Themen beschränken, die jeder versteht”, erzählt sie bescheiden. Das ist keine falsche Bescheidenheit, aber ob ihres mehr als nur gelungenen Debuts »The Spirit Room« ein völliges Understatement.
Immerhin weiß Michelle genau, wo sie hin möchte und was ihr nicht gefällt.
”Ich will mich auf keinen Fall als nettes Dummchen verkaufen lassen, was gut aussieht und sonst nichts zu bieten hat. Gleich beim ersten Foto-Shooting für das Album-Cover forderte mich der Fotograf auf, mein T-Shirt auszuziehen und nur mit weitem Sacko bekleidet auf dem Fußboden räkelnd in die bescheuerte Kamera zu schmollen. Was für ein Mist! Ich habe dann kurzerhand damit gedroht, die Session platzen zu lassen, und seitdem achtet die Plattenfirma sehr genau darauf, dass ich das tun kann, was ich tun möchte.
Ich will für meine Songs gemocht werden und nicht, um die seltsamen Phantasien von Männern bedienen zu können”, schnippt sie selbstbewusst.
Das ist gut so, denn abgesehen von Britney-Imitaten bot die Musikindustrie lange keiner 18-jährigen mehr eine solche Chance.

Mit Michelle Branch tritt endlich ein heilendes Gegengift zur Plastik-Pop-Verstopfung auf den Plan, das obendrein noch ungemein talentiert ist.

Quelle: toniq**: März 2002, Text von Michael Loesl. Vielen Dank an die Redaktion von toniq und den Autor für die freundliche Unterstützung.

Discographie:

CD ”The Spirit Room” (Warner – 2002)

Maxi-CD ”All You Wanted” (Warner- 2002)

www.michellebranch.net

31.03.2002