Chiquinha Gonzaga (1847-1935)/ Brasilien

Wegbereiterin der SAMBA

Eine außergewöhnliche Frau und Musikern

Als Percussionistin und Musikerin stelle ich zu oft fest, das uns als Frauen oft Vorbilder, Traditionen und herausragende Leistungen fehlen, die dann auch noch publiziert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden/werden.

Um so mehr freute es mich, als ich zu Karneval, eingeladen beim Hesssischen Rundfunk, ein Interview gab über Samba in Deutschland und hierbei auf diese außergewöhnliche Frau und Musikerin stieß.
Für mich, die mit vielen Samba spielenden Frauen und Dozentinnen zu tun hat, war das revolutionär.
Es soll also eine Urmutter des brasilianischen Karnevals gegeben haben??
Die heute noch verehrt wird und der immer noch der erste Wagen jedes Karnevals-Umzuges gewidmet ist?
Wunderbar und ein Phänomen zugleich, dass dies durch so einen puren Zufall „ans Licht“ kommt.
Außerdem lernte ich über die Sendung die Autorin, ihres Zeichens Frauenforscherin, kennen, die über sechs Monate in Brasilien lebte und diese Story ausgegraben hat.
Mit ihr nahm ich sogleich Kontakt auf und sie stellte der MELODIVA ihren kompletten Artikel über diese Ausnahmefrau, Komponistin, Mutter, Frauenrechtlerin…. zur Verfügung.

Ich möchte nur alle bitte, die diesen Artikel lesen werden, dafür Sorge zu tragen, dass möglichst viele Menschen, viele Sambistas hier in Deutschland und überall über das Schaffen der „Urmutter des brasilianischen Karnevals“ unterrichtet werden und dass wir auch hier bei unseren Umzügen vielleicht die brasilianische Tradition des ersten Wagens mit übernehmen würden.

Danke an die Autorin des folgenden Artikels, Antje Schrupp aus Frankfurt, und an alle, die dazu beitragen, diese Geschichte zu verbreiten.

Chiquinha Gonzaga
Die Urmutter der Karnevalsumzüge: Sie erfand die Samba und machte sie salonfähig

Wenn die großen Sambaschulen beim Karneval in Rio ihre Paraden abhalten, dann ist die Musik das Herzstück des Spektakels. Jede Sambaschule lässt sich für ihren farbenprächtigen Auftritt alle Jahre wieder einen speziellen Hymnus komponieren.Was hier zu Lande nur wenige wissen: Diese Tradition geht auf eine Frau zurück – die Komponistin Francesca Gonzaga, genannt Chiquinha, kam 1899 als erste Musikerin auf die Idee, ein eigenes Lied extra für den Karneval zu schreiben – „Abre Alas – mach den Weg frei!“

Eine regelrechte Parade von Sambaschulen gab es am Ende des 19. Jahrhunderts freilich noch nicht. Zwar war der Karneval im katholischen Brasilien auch damals schon das vielleicht wichtigste Fest des Jahres, doch die feine weiße Gesellschaft feierte nach europäischer Mode Maskenbälle, während die einfachen Leute auf den Straßen und an den Stränden feierten – größtenteils Schwarze, deren Vorfahren als Sklavinnen und Sklaven nach Brasilien gekommen waren, aber auch arme Einwandererfamilien aus Europa. In Gruppen zogen sie in den warmen Sommernächten des Karnevals singend und tanzend durch die Straßen, ihre Musik war ein wildes Durcheinander aus europäischen Polkas, Tangos und afrikanischen Rhythmen. Das inspirierte Chiquinha Gonzaga, die damals schon eine bekannte Musikerin war, den ersten Karnevalshit der Welt zu schreiben.
Ihr Text, den die Menschen bald schon lauthals dazu sangen, hieß: „Abre Alas, que eu quero passar“, auf deutsch: „Macht den Weg frei, ich will hier durch“.

„Abre Alas, macht den Weg frei“

Das war damals schon längst ein Lebensmotto von Chiquinha Gonzaga. 1847 in Rio de Janeiro als Tochter eines reichen Militärs und einer freien Mulattin geboren, hatte sie eine gute Ausbildung erhalten, zu der natürlich auch der Klavierunterricht gehörte. Mit 16 Jahren heiratete sie einen Jungunternehmer, den sie jedoch nach zehn Ehejahren und der Geburt dreier Kinder verließ, weil er cholerisch eifersüchtig war – nicht unbedingt auf andere Männer, sondern auf ihr Klavier.
Da ihre Familie daraufhin jeden Kontakt zu ihr abbrach, musste Chiquinha Gonzaga sich den Lebensunterhalt nun selbst verdienen. Sie gab Klavierunterricht und komponierte kleine Stücke. Allgemeine Anerkennung als Komponistin fand sie seit 1877, als ihr mit der Polka „Atrahente“ ein kleiner Hit gelang.

Eine Sensation zu damaliger Zeit

Chiquinha Gonzaga gehörte zu einer Gruppe von jungen Musikern, die mit neuen Rhythmen und Melodien experimentierten. Fasziniert war sie vor allem von der Volksmusik – den lebendigen Polkas der europäischen Arbeiter, den rhythmischen Klängen der Schwarzen, der bäuerlichen Folklore der Landbevölkerung. Dass sie solche Musik auf dem Klavier intonierte, einem Instrument, das damals – anders als das Akkordeon oder die Fidel – als nobel galt und auf dem man nur klassische Musik spielte, war eine Sensation.

Mit großer Hartnäckigkeit und gegen viel Widerstand gelang es Chiquinha Gonzaga im Lauf der Jahre, solche volkstümlichen Klänge von der Straße auf die Bühne zu bringen. Sie schrieb Burlesken und Operetten und bestand sogar darauf, das Orchester höchstpersönlich zu dirigieren.
Dabei hat sie die Musik des Volkes nicht etwa einfach ausgebeutet, sondern immer versucht, sie in ihrer Ursprünglichkeit zu erhalten. Durch die Verbindung der verschiedenen Traditionen und Stile wollte sie so etwas wie eine musikalische nationale Identität stiften – und genau das ist bis heute das Erfolgsrezept brasilianischer Musik. Chiquinha Gonzagas Lieder erklangen immer und immer wieder auf den Straßen und Plätzen, bis sie schließlich zu Ohrwürmern wurden. Auch Leute aus der höheren Gesellschaft fanden langsam Gefallen an der neuen Musik, zum Beispiel die damalige Präsidentengattin Nair de Tefé. Auf ihre Einladung hin führte Chiquinha Gonzaga 1914 einen ihrer populärsten Tangos – ein Stück mit eindeutig erotischen Anspielungen – sogar im Präsidentenpalast auf. Für die Moralapostel der Skandal des Jahres, für Gonzaga der endgültige Durchbruch.

Die Urmutter der Karnevalsumzüge in Rio

Die Musik war zwar Chiquinha Gonzagas Leidenschaft, aber nicht die einzige. Sie war immer auch politisch engagiert, setzte sich für die Einführung der Republik ein und kämpfte gegen die Sklaverei, die in Brasilien erst 1888 endgültig abgeschafft wurde. Der bitterste Preis, den sie für ihren eigensinnigen Lebensweg zahlte, war die Entfremdung ihrer ältesten Tochter, die sie bei ihrem Mann zurückgelassen hatte, und der man jeden Kontakt zur Mutter verbot – unter dieser Trennung litt Chiquinha Gonzaga ihr Leben lang. Trotzdem machte sie keine Kompromisse, auch nicht in der Liebe. Sie hatte diverse langjährige Affären, aus denen eine weitere Tochter hervorging, und im Alter von 52 Jahren begann sie eine Liebesbeziehung zu einem erst 16-jährigen Verehrer – die beiden blieben 35 Jahre lang, bis zu Chiquinhas Tod im Alter von 87, ein Paar.
In Brasilien wird Chiquinha Gonzaga heute als Begründerin der brasilianischen Popmusik und als Urmutter aller Karnevalszüge verehrt – spätestens seit ihr Leben vor einigen Jahren als Fernsehserie verfilmt wurde, kennt sie jeder. Und bis heute wird der erste Wagen jedes Karnevalsumzuges respektvoll nach ihrem Hit benannt: „Abre Alas“, macht den Weg frei. (Beitrag zur Radiosendung am 11.2.2002 im hr2-Frauenforum

Ihr Leben, Ihr Schaffen, Ihre Philosophie

Dem brasilianischen Publikum ist sie seit 1994 bekannt, als das Leben von Chiquinha Gonzaga verfilmt und als Fernsehserie ausgestrahlt wurde. Im Rest der Welt ist die wichtigste Musikerin Brasiliens, die die Rhythmen und Klänge der Volksmusik „salonfähig“ gemacht hat, leider noch weitgehend unbekannt. Doch Würdigung verdient Chiquinha Gonzaga auch wegen ihres Einsatzes für die Abschaffung der Sklaverei, für die Freiheit der Frauen und für die Durchsetzung der Urheberrechte von Autorinnen und Autoren.

Die Pianistin und Komponistin Chiquinha Gonzaga ist eine der größten Musikerinnen Brasiliens. Ihr größter Verdienst ist ihr Beitrag zur „Nationalisierung“ der brasilianischen Musik, der Anerkennung der populären Rhythmen und Melodien als „ernsthafte“ Musik. Ihr Werk umfasst über 130 Tangos, Choros, Fados und andere Stücke. Außerdem vertonte Chiquinha Gonzaga zahlreiche Operetten und Musicals.

Neben ihrer künstlerischen Leistungen war Chiquinha Gonzaga auch in politischen Fragen Vorreiterin – durch ihren Einsatz für die Abschaffung der Sklaverei, für die Urheberrechte von Autorinnen und Autoren und für die Möglichkeit von Frauen, ihr Leben freiheitlich selbst zu gestalten.

Chiquinha Gonzaga wurde am 17. Oktober 1847 unter dem Namen Franzisca Edviges Gonzaga als Tochter von Rosa Maria de Lima und João Basileu Neves Gonzaga in Rio de Janeiro geboren. Rosa Maria de Lima war eine freie Mulattin und seit längerer Zeit Geliebte des Generalmajors aus der angesehenen Familie Gonzaga, die einer Ehe der beiden ungleichen Partner nicht zustimmte. Franzisca war ihre erste Tochter, sie hatten später noch drei Kinder zusammen.

Zu Chiquinhas Erziehung gehörte, der Tradition entsprechend, auch Klavierunterricht. Schon im Alter von elf Jahren präsentierte sie bei einer Familienfeier ihre erste Eigenkomposition. Mit 16 heiratete sie, dem Wunsch ihrer Familie entsprechend, den 24jährige Oberstleutnant Jacinto Ribeiro do Amaral.
Als Hochzeitsgeschenk bekam sie von ihrem Vater ein Klavier geschenkt. Noch im selben Jahr, am 12. Juli 1864 bekommt Chiquinha ihren ersten Sohn João Gualberto, und ein Jahr später, am 12. November 1865, eine Tochter, Maria do Patrocinio. Doch die Ehe leidet unter der Eifersucht Jacintos – auf Chiquinhas Liebe zum Klavierspiel. Als er Anfang 1866 einen Militärtransport für den Paraguay-Krieg leiten soll, zwingt er Chiquinha mitzukommen. Auch João Gualberto kommt mit, die Tochter Maria bleibt unter der Aufsicht von Chiquinhas Mutter Rosa in Rio. Auf dieser Reise wird Chiquinha erstmals mit den Lebensbedingungen der Sklaven auf den Kriegsschiffen konfrontiert. Doch auch auf dem Schiff gelingt es Chiquinha, ein Klavier aufzutreiben, was zu immer neuen Streitigkeiten mit ihrem Mann führt.
Letzten Endes beschließt sie, mit ihrem Sohn zurück nach Rio zu gehen. Da sie inzwischen aber wieder schwanger ist, verlässt sie ihren Mann erst nach der Geburt ihres dritten Kindes: Hilário. Ihre Familie verweigert ihr darauf hin jede Unterstützung. Chiquinha behält nur ihren ältesten Sohn bei sich, die beiden anderen Kinder wachsen bei ihren Eltern auf.

Chiquinha Gonzaga macht sich schnelle Freunde in der „Musikszene“ von Rio. Vor allem musiziert sie bei Empfängen und privaten Festen und stellt dabei auch Eigenkompositionen vor. Sie lebt jetzt mit João Batista de Carvalho Jr. zusammen, ein alter Freund der Familie ihres Vaters – vermutlich ist diese Liebesbeziehung schon älter. Sie leben eine Zeitlang zusammen in Minas Gerais und Chiquinha bringt am 24. August 1876 eine weitere Tochter zur Welt, Alice. Doch bald darauf trennt sich Chiquinha von João Batista, da sie seine dauernden sexuellen Beziehungen zu anderen Frauen nicht akzeptiert.

Sie mietet sich mit ihrem Sohn João Gualberto eine Wohnung in Rio. Das Klavier wird jetzt zum Arbeitsmittel, Chiquinha lebt vor allem vom Klavierunterricht, aber auch von kleinen Auftritten und Kompositionen. Dabei beginnt sie zunehmend, Rhythmen und Melodien aus der Musik des „Volkes“ in ihre Klavierstücke einzubeziehen – eine Innovation, weil das Klavier damals als „nobles“ Instrument galt, auf dem nur klassische Stücke der europäischen Musik gespielt wurden. Unterstützung bekommt sie dabei durch den Musikprofessor Joaquim Antonio da Silva Callado Junior (1848-1880).

Im Februar 1877 veröffentlicht Chiquinha ihre erste Komposition, die Polka Atraente. Schon im November ist das Lied in der 15. Auflage. Nun schreibt sie schon nicht mehr nur Stücke für Klavier, sondern für ganze Orchester, die von ihr vertonten Musicals und Burlesken werden in Rio mit großem Erfolg gespielt. Besonders beliebt beim Publikum sind ihre „Maxixes“, populäre Tänze mit erotischen Anspielungen, die den oberen Schichten noch als obszön gelten. Letzen Endes wurden hier aber die Vorläufer für das gelegt, was Brasiliens Musik heute als Samba oder Lambada weltberühmt gemacht hat. Chiquinha ist auch die erste Musikerin, die 1899 ein eigenes Musikstück für den Karneval komponiert – „O Abre Alas“.

1902 reist Chiquinha Gonzaga erstmals nach Europa. Sie lebt nun mit einem erst 16jährigen Musiker und Bewunderer zusammen, João Batista. Um die amouröse Natur dieses Verhältnisses zu verschleiern (schließlich ist sie schon über fünfzig) gibt sie João als ihren Adoptivsohn aus. Die beiden sind ein glückliches Paar und leben bis zu Chiquinhas Tod über dreißig Jahre lang zusammen.

1912 erscheint ihre größter Theatererfolg, „Forrobodo“, eine Burleske, die im Armenmilieu Rios spielt. Chiquinha hat das Thema gegen den Widerstand des Theaterestablishements durchgesetzt, nachdem es einmal seinen Erfolg bewiesen hatte, löste es eine Welle gleichartiger Stücke aus. 1914 ist es auch Chiquinhas Tango „Corta-Jaca“ der – zum Skandal der Oberschichten – erstmals offiziell bei einer Regierungsveranstaltung gespielt wird. Bei solchen offiziellen Anlässen war „Volksmusik“ bis dahin verpönt gewesen.

1917 gehört Chiquinha zu den Gründungsmitgliedern der Brasilianischen Vereinigung der Theaterautoren zur Durchsetzung ihrer Urheberrechte. Chiquinha Gonzaga stirbt am 28. Februar 1935. Am darauffolgenden Karnevalssamstag, dem 2. März, findet in Rio de Janeiro der erste offizielle Wettbewerb von Sambaschulen statt.

Mai 2002
Journalistin und Politikwissenschaftlerin, Schwerpunkte: Frauenforschung, weibliche Philosophie und Ideengeschichte. Lebte längere Zeit in Brasilien, zuletzt 1999/2000 sechs Monate in Sao Paolo und Salvador/Bahia

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Autorin: Antje Schrupp

30.04.2003