Hintergrund ihrer Untersuchung war die Feststellung, dass außerhalb der Hochschule die Männer an den Instrumenten im Jazzbereich immer noch klar in der Überzahl sind und trotz Emanzipationsbestrebungen und gleichen Bildungschancen immer noch eine signifikante Geschlechterdifferenz im Jazz besteht. Woran liegt das also? Was hindert Frauen und Mädchen am Instrumentalspiel im Jazz? Sind es musikalische Elemente wie Komposition und Improvisation? Trauen sich Frauen schöpferische Tätigkeiten weniger zu als reproduktive oder spielen vielmehr sozialpsychologische und soziokulturelle Faktoren eine Rolle in der Wahl einer Profession? Wie schätzen Frauen ihre Erfolgschancen in einem männlich dominierten Berufsfeld ein? Lassen sie sich von Stereotypen wie der männlich-behafteten Vorstellung des „Genies“ beeinflussen, die ihnen Karrierechancen und Entfaltungspotentialen verwehren?

Diesen Fragen versucht Senge mit ihrer Arbeit auf den Grund zu gehen, indem sie musikalische Elemente der Jazzmusik, aber auch sozialpsychologische und soziokulturelle Faktoren im Wirkungsfeld einer Jazzinstrumentalistin berücksichtigt. Zuerst einmal nimmt sie sich viel Zeit für eine interessante historische Betrachtung des Begriffs des „Genies“ und der Vorstellung, dass es ein angeborenes Talent gäbe. Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dieser Begriff vornehmlich mit männlichen Künstlern in Verbindung gebracht. Außerdem diente der „Geniemythos“ im Bürgertum als Rechtfertigung der Entwicklung einer Hierarchie zwischen Komponierenden und Ausführenden in der Kunstmusik.

Drei Damen bei der Hausmusik, Gemälde von Silvestro Lega (1868)

Frauen durften gemäß den damals herrschenden Moralvorstellungen nur im Kreis der Familie bzw. im eigenen Haus musizieren, an einem sicheren Ort, wo sie gut aufgehoben waren. Die musikalische Ausbildung am Instrument gehörte zwar schon immer zur Mädchenerziehung in Familien gehobener Stände dazu. Die oftmals schweren Instrumente, die dekorativ das Wohnzimmer schmückten, verpflichteten die Frau aber an das häusliche Musizieren. Musikinteressierten Frauen blieb also nichts anderes übrig, als „Hausmusik“ zu betreiben oder ihr Geschlecht zu verwischen und unter anderem Namen zu publizieren.

Senge vermutet, dass dieses Wertungsmuster des Genies mit seiner eindeutigen Geschlechtsspezifik und die bürgerlichen Ideale weiblicher Musikerziehung aus dem 19. Jahrhundert nach wie vor die Wahrnehmungen der Rollenverteilungen im 21. Jahrhundert beeinflussen. Gesellschaftliche Normen würden nach wie vor auf Mädchen und Jungen einwirken, wenn sie z.B. ein Instrument auswählen. Mädchen wählen vermehrt Instrumente wie Flöte, Violine und Klavier; Blechbläser und Schlagzeug würden eher von Jungs gewählt, da sie traditionelle Instrumente der Militär- und Marschmusik darstellten und ausschließlich von Jungen und Männern gespielt wurden. Sie führt eine Untersuchung von Kristyn Kuhlmann (2004) an, in der über 600 Schüler*innen in sog. „Timbre-Tests“ immer mit den Klängen von zwei verschiedenen Instrumenten konfrontiert und dann aufgefordert wurden zu entscheiden, welches der beiden sie favorisieren. Wenn die Kinder den Instrumentennamen nicht wussten, fielen ihre Präferenzen nicht stereotypisch aus. Kannten sie den Instrumentennamen, entscheiden sich Mädchen und vor allem die Jungen für stereotypische Instrumente.

Sie zitiert weiter Dr. Michaela Tzankoff, die in ihrer Interaktionstheorie postuliert, dass Kinder in ihrer Sozialisation früh beeinflusst würden, in dem Lehrer*innen Jungen durch stärkere positive und negative Zuwendung mehr zu extrovertiertem und dominanten Verhalten anspornen und Mädchen zur Passivität (selektive Verstärker). Möglicherweise trüge gar der Frauenüberschuss im Erzieher*innen- und Lehrpersonal dazu bei, dass sich Mädchen insgesamt mehr mit den Institutionen identifizieren könnten als Jungen, die eher eine Abwehrhaltung gegen die Institutionen aufbauen. Das könnte auch erklären, warum Jungs sich in informelleren Zusammenhängen leichter entfalten und Mädchen mehr in der Familie und angeleitet von pädagogischen Fachkräften Musik machen, wie es auch Dr. Ilka Siedenburg in ihrer empirischen Untersuchung herausgefunden hat. Es ließen sich also Parallelen zur musikalischen Sozialisation des 19. Jahrhunderts aufzeigen, wo die häusliche Musizierpraxis für Mädchen in bürgerlichen Familien die Norm darstellte. Erst in der späteren Pubertät gelangten Mädchen auch mehr in informelle Kontexte, da seien die Jungs aber schon in ihrer musikalischen Entwicklung weiter.

Ein weiterer interessanter Gesichtspunkt ist, wie Mädchen und Jungen selbst ihre Fähigkeiten bewerten und von den Eltern eingeschätzt werden. Senge führt eine Langzeitstudie zur Sozialisation und Individualentwicklung von Eccles an, die zeige, dass Mädchen und Jungen trotz ähnlicher Leistungen in einem Fach unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich ihrer Fähigkeiten hätten: „Eltern sprechen bezüglich ihrer Söhne bei Erfolgen in Mathematik von Talent, bei Mädchen von Anstrengung. Jungen bewerten ihren Erfolg als Ergebnis von Fähigkeiten, Mädchen ihren als Folge von Anstrengung und guten Lehrkräften“. Spannend ist auch eine weitere Untersuchung von Gneezy et al. aus dem Jahr 2003, die sie erwähnt: Studien zur Untersuchung von Geschlechtsunterschieden in wettkampforientierten Bereichen hätten bewiesen, dass „Frauen weniger Leistung erbringen, sobald sie Teil eines Wettbewerbs sind, auch wenn sie dieselben Kompetenzen aufweisen wie ihre männlichen Kollegen“. Männer dagegen erbrächten in Wettbewerbssituationen bessere Leistungen. Frauen mieden zwar keine Wettbewerbe, fühlten sich in gemischtgeschlechtlichen Gruppen aber nicht wettbewerbsfähig. In einem gemischtgeschlechtlichen Umfeld sorgten sozialpsychologische Faktoren also dafür, dass sich Frauen insgesamt leistungsschwächer einschätzen als Männer, und der Wettbewerbsdruck wirke sich negativ auf ihre Leistungen aus. Dies ist ein interessanter Gesichtspunkt, der anschaulich erklären könnte, warum sich junge Musikerinnen häufig nicht der Situation eines Vorspiels bzw. einer Eignungsprüfung aussetzen wollen – der Zugangsvoraussetzung für ein Studium.

Seit vielen Jahren wichtiger Session-Treffpunkt: die LadyJam! in Köln (hier mit Abends mit Beleuchtung)

Senge vermutet weiter, die Jazzimprovisation als Teil eines komplexen Kreativitätsprozesses sei mit männlichen Rollenvorstellungen belegt, die Mädchen und Frauen möglicherweise den Zugang erschweren. Denn auch im Jazz ist die Vorstellung eines „natürlichen“ Talents präsent. Ein Blick auf die Jazzszene lässt die Annahme zu, die Fähigkeit zur Improvisation sei eine besondere Begabung, die berühmten Jazzimprovisatoren wie Louis Armstrong, Miles Davis, John Coltrane, Charlie Parker angeboren sei. Attribute wie Schüchternheit und Konformität, die gemeinhin mit Weiblichkeit verbunden würden, seien im Jazz fehl am Platz; vielmehr zeichne sich ein typischer Jazzmusiker durch Selbstbewusstsein, Wettbewerbsdrang und Unabhängigkeit aus. Auch eine gewisse Kühnheit und Härte sei in dem Männer-Business von Nöten, ein aggressiver Umgang mit Sexualität spiegele sich auch in der Kommunikation unter Musikern wieder. Auch würden Mädchen und Frauen mehr in der reproduktiven musizierenden Rolle gesehen, während kreativ-schöpferische Leistungen eher den Männern vorbehalten wären.

In ihrem Fazit schlägt sie vor, die Begriffe zu entmystifizieren und somit geschlechtlich zu neutralisieren: „Die Erkenntnis der Erlernbarkeit von Improvisation und kreativ- schöpferischen Prozessen jeglicher Art könnte den Fokus von Kreativität als Fähigkeit, die ausschließlich von außergewöhnlich begabten Individuen ausgeübt werden kann, auf Kreativität als ein gesellschaftliches Gut verlagern, das für jede_n zugänglich ist und käme somit dem eigentlichen Wunsch der Wissenschaft entgegen, den Kreativitätsbegriff zu entmystifizieren“ (vgl. Rosenbrock 2006). Auch der Sozialisationsprozess weise geschlechtsspezifische Tendenzen auf, denn Mädchen wüchsen innerhalb eines soziokulturellen Kontexts auf, in dem geschlechtsbezogene Stereotypen die individuelle Identitätsfindung prägten. Dadurch öffneten sich Mädchen und Frauen nicht alle möglichen Handlungsspielräume, sodass ihre Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt würden. Die Bildungspolitik müsse hier dagegenhalten und die Jugendlichen bei der Selbstsozialisation unterstützen, sodass sie sich durch individuelle Entscheidungen von vorgefertigten Normen unabhängig machen können und ihnen mehr Handlungsspielräume zur Verfügung stehen.

Teilnehmerin & Dozentin beim 1. Jazz Girls Day in Frankfurt 2019 (Foto: Jacci Larius)

Junge Musiker*innen würden durch das Erlernen von Improvisation und das Eingehen von möglichen Risiken in der musikalischen Interaktion ihr Selbstbewusstsein steigern und sich von selbstgesteckten Grenzen und Unsicherheit befreien. Das stärke Mädchen und Frauen in dem Vorhaben, ihr künstlerisches Potential an einem Instrument zu entwickeln, das ihnen liegt. Anstatt Bildungsangebote immer auf individuelle Exzellenz zu fokussieren, sollte die Aufmerksamkeit auf das kreative Kollektiv, auf den Gruppenprozess gelenkt werden. Musiklehrer*innen sollten Mädchen zum Erlernen von Blasinstrumenten, Schlagzeug, Bass und E-Gitarre motivieren, was erleichtert wird, wenn diese Instrumente in den Musikschulen auch von Instrumentalistinnen präsentiert werden, sodass eine Identifikationsmöglichkeit besteht. Auch könnten die Lehrer*innen beeinflussen, dass Mädchen mehr in informelle Kontexte gelangen und sich autodidaktisch betätigen und vom reinen Lernen nach Noten wegbewegen.

Auch die beruflichen Rahmenbedingungen und Konditionen könnten für Frauen so gestaltet werden, dass ihnen eine Karriere als Jazzmusikerin attraktiv erscheint. Dazu gehörten mehr Krippenplätze in Hochschulen und flexiblere Betreuungszeiten, eine gesicherte Freistellung im Falle einer Mutterschaft, höhere Gagen und flexiblere Arbeitszeiten für Mütter und bessere Sozialleistungen (vgl. Stelzer 2013).

Die vollständige Bachelorarbeit könnt ihr unter folgendem Link runterladen: Bachelorarbeit Lena-L. Senge 

Zur Person: Lena-Larissa Senge ist Sängerin (Pop/Jazz), Komponistin und Vokalpädagogin. 2017 hat sie ihr Bachelorstudium Musikerziehung abgeschlossen, momentan ist sie im Masterstudium der Musikvermittlung/Medienkulturwissenschaft an der Uni Köln. Sie gibt Gesangsunterricht, veranstaltet Konzerte, ist u.a. mit ihren Bands LARIZA (Contemporary Jazz), LUAH (Folk/Jazz), Inspiration, Dear! (Vocal Jazz Ensemble/Trad. Jazz) und im Landesjugendjazzorchester NRW unterwegs. Außerdem ist sie Mitglied im Netzwerk Musikvermittlung e.V. Infos

(Titelfoto: hr Bigband 2011, Dirk Ostermeier)