Diskriminierung durch Gatekeeper

Dass durch #musicmetoo eine breite Debatte angestoßen wird, ist längst überfällig und kann die Musikbranche letztlich nur gerechter und sicherer machen. Als Verein, Veranstalterinnen*, Musikjournal und Netzwerk setzen wir uns seit über 35 Jahren für Frauen* und Mädchen* in der Musikszene ein. Im Zuge unserer Arbeit haben wir viele Musikerinnen* interviewt und Umfragen in unserem Netzwerk durchgeführt. Dabei haben wir zwar nicht von sexueller Gewalt, aber von vielen Diskriminierungen, Zuschreibungen und auch Grenzüberschreitungen erfahren, die viele im Laufe ihrer Karriere ertragen mussten. Meist kamen diese von „Gatekeepern“: sei es der Musikhochschulprofessor, Produzent, Jurymitglied, Labelbetreiber, A&R Manager, Veranstalter oder Journalist. Im Zweifel waren und sind es (cis) Männer, die darüber urteilen, ob frau* als Musikerin* etwas „taugt“ und Karriere machen kann. Leider hat sich daran im Lauf der Zeit nicht viel geändert: Bei der Keychange Studie 2021 gaben 96% der befragten Akteurinnen in der Musikbranche an, dass sie bereits Diskriminierung erlebt hätten.

Beziehungen mit Machtgefälle

In vielen Beziehungen in der Musikbranche gibt es ein Machtgefälle, das missbräuchliches Verhalten begünstigt. Die Regeln, nach denen „gespielt“ wird, sind oft nicht klar. Manche glauben gar, dass für sie gar keine Regeln gelten, wie es sich jetzt beim Fall Till Lindemann aufdrängt. Klar, das ist Sex, Drugs ’n Rock’n’Roll, da wird so manches Auge zugedrückt, weil es eben Stars mit Allüren sind. Und die Groupies sind selbst dran schuld, weil sie ja angeblich Bescheid wissen müssten!

Was sich letztlich zwischen Star und Fan in Backstage-Bereichen und Tourbussen abspielt, wird aber selten bekannt. Umso mutiger sind die Frauen, die sich jetzt trauen, über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten. Nachdem die Bilder und Texte von Shelby Lynn in den sozialen Medien die Runde machten, wechselten sich Fassungslosigkeit und Mitgefühl ab. Der Verdacht kommt auf, dass in der Musikindustrie sexuell übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber anderen Personen gebilligt und geduldet wird und nach wie vor traurige Realität ist. Was hier ans Licht der Öffentlichkeit gelangt, ist systematische sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen*, wie sie Till Lindemann in diversen Publikationen schon seit längerem kommuniziert – welches „künstlerische Ich“ hierfür verantwortlich ist, verändert leider nicht die Tatsache der durch Text und Film geschaffenen Realität.

Täter-Opfer-Umkehr statt Empathie

Genauso schockierend ist, wie in der Gesellschaft damit umgegangen wird. Es kommt wie zu erwarten zu massivem Victim Blaming und Beschuldigungen gegen die Betroffenen. Eine Sensibilisierung den Betroffenen gegenüber sollte wirklich allerspätestens seit der #metoo-Bewegung und Debatte vorauszusetzen sein. Fehlanzeige: viele Stimmen im Netz suchen die Schuld lieber bei den Opfern. Es kommt zu tätlichen Angriffen von Rammstein Fans gegenüber Demonstrantinnen* vor den aktuellen Konzerten, die Anwälte von Rammstein verschicken Unterlassungsklagen an die Betroffenen, um nur ein paar Konsequenzen für die Betroffenen zu nennen. Das alles vor dem Hintergrund, dass es Shelby Lynn nicht gelang, am Tag nach dem Geschehen eine Anzeige bei der Polizei in Vilnius zu erstatten und die Behörden ihr auch sonst erst helfen wollten, nachdem sie sich auf Social Media geäußert hat.

#rammstein ist kein Einzelfall

Deshalb ist eine Plattform wie #musicmetoo so wichtig! „Es ist nicht nur ein Genre, nicht nur eine Band und #rammstein ist kein Einzelfall“, schreiben die Initiator*innen der Plattform #musicmetoo in ihrer aktuellen Pressemitteilung. Die von Queer Cheer, Safe the Dance, MusicSWomen* e.V., MusicTHWomen* und Deutschrapmetoo gestartete Anlaufstelle will nicht nur sexualisierte Gewalt und Sexismus in den Blick nehmen; sie geht noch weiter und beleuchtet die Verschränkungen mit weiteren Problemen in der Musikbranche: Rassismus, Trans-Feindlichkeit, Ableismus, Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung, Herkunft oder Religion. Personen würden zudem mehrfach marginalisiert und befänden sich dadurch in noch schlechteren Ausgangspositionen, sich zur Wehr zu setzen. Deshalb meint der Begriff #musicmetoo alle Formen von Diskriminierung und Grenzüberschreitungen.

Zukünftig soll es auf der Plattform Bildungsangebote und umfassende Infos geben. Außerdem zeigen die dort aufgestellten Forderungen auf, wie Politik, Institutionen, Künstler*innen und alle anderen strukturellen Problemen begegnen können. Die Initiator*innen rufen alle verantwortlichen Akteur*innen und Institutionen der Musikbranche auf, sich zu Awareness und betroffenen-zentrierter Arbeit zu verpflichten und sich über öffentliche Statements zu positionieren. Insbesondere sei es wichtig, dass Künstler*innen mit Reichweite Stellung beziehen. 

Auch die Musikerin Friede Merz hat Machtmissbrauch und emotionale Manipulation an einer deutschen Musikhochschule erlebt. Auf ihrem Blog geht sie in einem ausführlichen Statement darauf ein, wie eine heimliche „Beziehung“ zu dem deutlich älteren Professor Greg Cohen während ihrer Studienzeit in Isolation, Depression und den Verlust des künstlerischen Selbstbewusstseins mündete. Wie aus vielen kleinen Vorfällen schließlich ein massiver Schaden in ihrer Seele entstand und sie sich niemandem anvertrauen konnte, keine Anlaufstellen fand, wo sie über die erlittene psychische Gewalt hätte berichten können. Inzwischen gibt es einige Adressen, die euch in solchen Fällen weiterhelfen:

 

Tipps & Anlaufstellen

Music S Women* organisiert zusammen mit der Themis Vertrauensstelle gegensexuelle Belästigung und Gewalt e.V. einen digitalen Infotalk für Akteur*innen der Musikbranche am 13.07.2023. Die Teilnahme erfolgt mit Anmeldung, es sind 30 Plätze vorhanden.

#musicmetoo setzt sich aktiv gegen Übergriffe und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche ein. Die Plattform bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen anonym und öffentlich zu teilen und darüber das strukturelle Ausmaß des Problems zu zeigen. 

Themis ist eine Vertrauensstelle, an die sich Menschen seit 2019 wenden können, die sexuelle Belästigung oder Gewalt anlässlich ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb der Kultur- oder Medienbranche erfahren haben. Gemeinsam mit der betroffenen Person klärt sie den Vorfall auf und unterstützt bei der Beantwortung der Frage: Was kann ich und was kann mein*e Arbeitgeber*in zu meinem Schutz tun? Die niedrigschwellige Beratungsstelle berät Betroffene, Zeug*innen, Angehörige und Arbeitgeber*innen der Kultur- und Medienbranche kostenfrei juristisch und psychologisch, d.h. sie liefert eine erste juristische Einordnung und bietet psychologische Entlastungsgespräche an. Zusätzlich wird auch eine juristische Beschwerdeführung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz angeboten, die aufgrund des Gesetzeswortlauts jedoch Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende bisher leider noch nicht einschließt. Themis setzt sich gemeinsam mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und anderen Sozialverbänden dafür ein, dass diese Regelungslücke schnellstmöglich geschlossen und der Schutz des AGG ausgeweitet wird. Trotzdem können sich alle Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende gerne an Themis wenden, um eine juristische Ersteinschätzung oder psychologische Unterstützung zu bekommen. Übrigens: Die Vertrauensstelle wird zu 40% von der Staatsministerin für Kultur Claudia Roth gefördert, der Rest wird durch Mitgliedsverbände und Spenden abgedeckt. Das heißt, sie agiert transparent und unabhängig und ist in keiner Weise von Weisungen ihrer Mitgliedsverbände und Spender*innen abhängig. 

Die Ombudsstelle – die „Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung“ des Landes Berlin kam aufgrund des Antidiskriminierungsgesetzes (LADG) 2020 zustande. Das LADG schützt bei Diskriminierung, die von Berliner Behörden und Berliner öffentlichen Einrichtungen, also auch Hochschulen ausgeht. Sie bietet Betroffenen eine Anlaufstelle, die eine kostenlose, unabhängige und vertrauliche rechtliche Einschätzung des Falles nach dem LADG gewährleistet. Die Ombudsstelle handelt nicht nach dem Strafrecht, sondern agiert im Privatrecht, d.h., die Beweispflicht liegt bei den Täter*innen. Vonseiten der Betroffenen braucht es keine strafrechtlich relevanten Beweise, hinreichende Indizien genügen. Besonders im Falle sexualisierter Gewalt, wo es selten Beweise gibt, ist das wichtig.

Deutschrapmetoo ist eine Initiative, die Betroffene von sexualisierter Gewalt innerhalb der Deutschrapbranche miteinander vernetzt. Menschen haben die Möglichkeit, DRMT ihre Erlebnisse zu schildern, diese werden gesammelt und anonymisiert veröffentlicht. Außerdem werden Betroffene bei Bedarf an Psycholog*innen oder Jurist*innen weitergeleitet. DRMT versteht sich als Sprachrohr für die Perspektive von Betroffenen sexualisierter Gewalt. 

Safe the Dance ist eine Agentur für Awareness, Inklusion, Diversity  und Musikindustrie Know-how. Sie hält Schulungen und Ressourcen bereit, hält Vorträge und Workshops und kuratiert und produziert Events.

Queer Cheer – Community für “Jazz” and Improvisierte Musik – ist ein in Berlin gegründetes Kollektiv für queere Musiker*innen. Queer Cheer setzt sich mit intersektionalem Ansatz für die Sichtbarkeit queerer Musiker*innen ein, sowie für Interdisziplinarität und Multiperspektivität  in der Kunst.

Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen: die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V. (bukof) schägt darin 10 Maßnahmen vor, um angehende Künstler*innen aller Sparten bestmöglich zu schützen.

„Sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext – Herausforderungen, Umgangsweisen und Prävention“ von Sabine Blackmore und Heike Pantelmann: Dieses Werk ist eine orientierende Handreichung für alle, die im universitären und/oder Forschungsbereich arbeiten, Personalverantwortung tragen, die Entwicklung von akademischen Einrichtungen begleiten und nicht zuletzt für all jene, die von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt in hochschulischen Kontexten direkt betroffen oder ihr indirekt begegnet sind. Im Beitrag Kunst braucht Nähe. Nähe braucht Regeln. Vom professionellen Umgang mit Grenzen in der musikalischen Ausbildung an Musikhochschulen von Antje Kirschning wird z.B. gezeigt, wie die Hochschulstrukturen und der alltägliche Umgang Grenzüberschreitungen, Diskriminierung und Machtmissbrauch begünstigen. Dies geschieht durch überzogenen Leistungsdruck und Angstmachen als didaktisches Mittel, fehlende Bewertungskriterien, intransparente Auswahlverfahren, unreflektiertes Übernehmen von sexistischen Schönheitsidealen, ein fehlendes normatives Gerüst mit gemeinsam vereinbarten Grundwerten, fehlende pädagogische Vor- und Weiterbildung von Lehrenden sowie Versperrung von Zugängen und Netzwerken. Präventive Maßnahmen müssen verhindern, dass hierarchische Situationen ausgenützt und Abhängigkeiten missbraucht werden. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Frauenbeauftragte, die zu Grenzüberschreitungen und sexualisierter Belästigung ausdrücklich auch Männer und nicht-binäre Menschen berät, empfiehlt die Autorin verpflichtende Weiterbildungen für Lehrende zum Ausbalancieren von Nähe und Distanz und mehrsprachige, unbenotete Seminare für Studierende zum Umgang mit körperlichen und seelischen Grenzen. Abschließend werden drei Vorschläge zur Prävention von Machtmissbrauch, sexualisierter Belästigung und Gewalt gemacht, die über die Hochschulen hinaus in die Kulturbranche hineinwirken würden: Verhaltenskodizes, eine bundesweite Aufklärungskampagne sowie der Einsatz von Intimitätskoordinator*innen.

Online-Broschüre „#HackSexism – Strategien und Maßnahmen gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt auf Festivals & Co“: In der Broschüre werden die Ergebnisse eines im April 2021 stattgefundenen „Social Hackathon“ und eines öffentlichen Calls gebündelt, um den Diskurs zu Sexismus und sexualisierter Gewalt auf Festivals weiter voranzutreiben. Die Broschüre verfolgt zwei Ziele: „All denen Raum und Sichtbarkeit geben, die am Social Hackathon mitgehackt und drei Tage lang intensiv die Köpfe zusammengesteckt haben, um zu diskutieren, an Problemen zu arbeiten, sich zu vernetzen, auszutauschen, zu informieren und weiterzubilden. (…) Außerdem wollen wir dieses Wissen für Festivalbetreibende zugänglich und nutzbar machen. In dieser Broschüre findet sich ein großer Wissens- und Erfahrungsschatz, der unterschiedliche Themen und Perspektiven zu den Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt umfasst. Natürlich sind diese Ergebnisse auf eine Weise unvollständig – Awarenessarbeit, und damit die Bemühung Orte für alle sicherer zu machen, ist ein immerwährender Prozess – aber sie sind eine Sammlung von Eindrücken, Denkansätzen, Ideen für Maßnahmen und damit wertvolles nutzbares Wissen für die praktische Festivalarbeit. Wir wünschen uns, dass dieses Wissen aktiv genutzt und in die Praxis umgesetzt wird. Damit Festivals für alle sicherer werden“.

(Fotos: picjumbo.com, Anete Lusina)

Autorinnen: Verena Höfle & Mane Stelzer

Schon ein kleiner Musikclub verbraucht so viel Strom wie jährlich 33 Haushalte in Deutschland. Damit produziert er etwa 30 Tonnen CO2 – ohne die Emissionen aus Heizungswärme, Abfall, Wasser und Mobilität. So steht es im Green Club Guide, einem Leitfaden, der Veranstaltenden Handlungsempfehlungen geben und Feiernde zum Umdenken bewegen will. Herausgegeben wurde er von clubliebe e.V. in Kooperation mit der Clubcommission Berlin. Der „virtuelle Klimaberater“ für die umweltfreundliche Gestaltung von Clubs in Berlin zeigt auf, wie Clubs einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung ihrer eigenen Energiebilanz sowie für den Klimaschutz ihrer Stadt leisten können. In sieben Handlungsfeldern Bar, Floor & Bühne, Team, Toiletten, Putzen & Abfall, Strom & Heizung und Beratung & Förderung – werden Wege aufgezeigt, wie das Klima geschützt und der Geldbeutel geschont werden kann. Da sind jede Menge praktische Tipps vom energieschonenden Getränkekühlen über nachhaltigen Einkauf zu Recycling von Zigarettenkippen, Wasser und Plastik sparen, „richtigen“ Ökostrom, LED-Beleuchtung, Belüftung, umweltschonende Reinigung, u.v.m. dabei. Auch wer Energiespar-Beratungen anbietet kann im Guide nachgelesen werden.

Ein weiteres Projekt der Beteiligten ist Clubtopia, das sich für den nachhaltigen und klimafreundlichen Wandel der Berliner Clubszene einsetzt und Expert*innen der Nacht & Nachhaltigkeit miteinander vernetzt. Die Teilnehmer*innen erarbeiten an Runden Tischen und in sog. Future Party Labs innovative Lösungen für nachhaltige Clubnächte. Der nächste findet bereits im Dezember statt (s. unten).

Im September unterzeichneten viele Clubs den Code of Conduct für eine nachhaltige Clubkultur: keine lasche Absichtserklärung, sondern ein konkreter Maßnahmenplan, der Energiesparmaßnahmen und die Reduktion des Verbrauchs um mindestens 10 % pro Jahr vorsieht. Gäst*innen erhalten ihre Getränke und Essen ausschließlich in wiederverwendbarem Geschirr. Die beteiligten Clubs erfassen außerdem ihre CO2-Emissionen, die durch die Künstler*innen-Anreise entstehen, reduzieren diese um 10% pro Jahr und kompensieren großzügig und möglichst lokal. Auf der Plattform Zukunft Feiern könnt ihr alle Ziele einsehen.

In der Festivalbranche ist das Thema auch schon längst angekommen. 67,8% der Festivalfans finden laut einer großen Online-Umfrage, dass Nachhaltigkeit eines der wichtigsten Themen der Zukunft ist, das Veranstaltende angehen sollten. Das kam bei einer Umfrage von Festival Playground heraus, einem Zusammenschluss von über 80 Festivals, die sich der Entwicklung einer nachhaltigen und innovativen Festivalzukunft verschrieben haben. Gemeinsam wurde die größte Umfrage der Festivalgeschichte durchgeführt, und die Antworten von über 37.000 Festivalfans dienten als Basis für die Workshops und Programmpunkte des Festival Playgrounds. Neben der Nachhaltigkeit wurden bei den Antworten als weitere wichtige Baustelle Sicherheit und Awareness identifiziert, eine Mehrheit wünscht sich außerdem mehr Diversität auf den Bühnen. Vom 18. – 21. Juni wurde dann aufbauend auf den Ergebnissen der Umfrage an konkreten Konzepten rund um die Themen Nachhaltigkeit, Eventisierung, Mobilität, Inklusion, Ernährung, Gleichberechtigung und Technologie gearbeitet.

Auch Sarah Bergmann hat sich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben. Sie arbeitet seit 2018 als Guest Relation Manager im Bereich Awareness und Sustainability für Goodlive GmbH, die unter anderem die Festivals Melt, splash!, Full Force und Lollapalooza organisiert. Ihr Schlüsselmoment war, als sie über den Campingplatz von Ferropolis lief, nachdem alle Besucher*innen abgereist waren. Ihr bot sich ein Bild der Zerstörung: abgeknickte Pavillons, umherflatternde Zeltplanen und Müllberge, so weit das Auge reichte. „Da dachte ich mir: Das geht so nicht. Wir müssen unsere Verantwortung anders wahrnehmen“. Mit [FAIR]OPOLIS hat Bergmann deshalb auf dem Campingplatz einen Bereich geschaffen, auf dem Kreative und NGOs für das Thema sensibilisieren. Denn das wird höchste Zeit: „Musikfestivals haben den CO2-Fußabdruck einer Kleinstadt“, heißt es auf der Seite des Melt-Festivals. Und es muss nicht alles teuer sein: „Wir arbeiten mit NGOs zusammen, die nach dem Festival Verwertbares aufsammeln, um es zu spenden oder zu verleihen. Wir haben keine Mehrkosten, weniger Müll und tun Gutes,“ so Bergmann. (Foto: reservix)

Die musicnet entertainment GmbH, die das österreichische Frequency Festival veranstaltet, macht aus der Not eine Tugend. 2019 startete sie in Zusammenarbeit mit der schweizerischen Firma carbon-connect AG die Aktion Lass Dein Zelt Bäume pflanzen!. Das Konzept soll Besucher*innen, welche ihre Zelte am Ende der Veranstaltung wieder mit nach Hause nehmen, belohnen, indem für jedes mitgenommene Zelt 1 Baum gepflanzt wird. Bei 200.000 Besucher*innen kommt da schon was zusammen.

Auch das Futur 2 Festival auf der Elbinsel Entenwerder ist Vorreiter in Sachen Klimaneutralität. Verschiedene Bands und DJs bespielen zwei Bühnen – der Strom dafür kommt aus Solarenergie oder wird von den Besucher*innen selbst erzeugt: Naturstrom sozusagen (Foto: Malte Metag). Der Eintritt ist kostenlos.

Viele Akteur*innen arbeiten derzeit an der grünen Musikbranche. Das Netzwerk Green Music Initiative / GO Group hat zusammen mit 6 europäischen Partnern das GEX – Green Europe Experience Forschungsprojekt zum Thema Kreislaufwirtschaft bei Festivals gestartet. In einem 3 jährigen Living Lab Prozess wird an der Zukunft von klimaneutralen Open Air Events co-kreativ entwickelt, in der Praxis umgesetzt, evaluiert und für alle dokumentiert. GEX wird am Ende eine Methode und ein Handbuch für die beiden Hauptthemen des Projekts zur Verbesserung der Festival- und Eventbranche erstellen. Das Konzept gruppiert sich um 7 Rs: Rethink, Reduce, Repair, Reuse, Refurbish, Recycle und Recover.

Ein großer Problembereich ist vor allem die Anreise zu den Festivals. Bei der Analyse der CO2-Bilanz des Melt-Festivals zeigte sich z.B., dass der Faktor „Mobilität“ knapp 78 Prozent aller Emissionen ausmacht. Hier braucht es ein Umdenken bei den Besucher*innen – aber auch hinsichtlich des Bookings. Besucher*innen des Meltfestivals können jetzt einen sog. Green Pass kaufen, mit dem sie die Möglichkeit haben, die Klimabelastung ihres Festivalbesuches auszugleichen. Dieser freiwillige Umweltbeitrag wird in Zusammenarbeit mit carbon-connect AG z.B. in Waldschutzprojekte in Mittel- und Südamerika investiert, welche eine äquivalente Menge CO2-Emissionen kompensieren.

Eine geniale Idee hatte die FahrradBande mit der MitRADgelegenheit zum FEEL Festival. 2019 übernahm das kostenlose Angebot der ADFC Berlin. Alle Festival-Teilnehmer*innen konnten sich der Fahrradtour von Königs Wusterhausen bis zum Bergheider See (ca. 110 km) anschließen. Es gab einen Gepäcktransport zum Festival und nach Berlin zurück. Außerdem war für Verpflegung in einer großen Pause ungefähr auf der Hälfte der Strecke gesorgt. Fast 50 Musikfans nahmen an der Tour teil.

Weitere Lösungsansätze für grüneres Touren gibt es im Green Touring Guide. Der Leitfaden wurde von Studierenden der Popakademie Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Green Music Initiative und kollektif erstellt. Er ist in Rücksprache mit Booking‐ und Managementagenturen, sowie Vertreter*innen von Labels entstanden. Auch dieser Leitfaden identifiziert als Schwerpunkte der Emissionen vor allem die Anreise des Publikums und den Ausstoß der Venues. Auf jeden einzelnen Fan, die/der ein Konzert besuche, entfielen 5kg CO2, bei einem mittelgroßen Gig wären das insgesamt etwa 1,5 Tonnen, was etwa einem One‐Way‐Flug nach New York entspräche. Der Guide setzt diese Rechnung in den deutschen Kontext: „In Deutschland wurden 2013 74,4 Millionen Tickets (Statista, 2014) für Musikveranstaltungen verkauft. Wenn man annimmt, dass auf jeden Besucher 5kg CO2 entfallen, wurden dadurch insgesamt 372.000 Tonnen CO2 freigesetzt. Das entspräche 248.000 Flügen nach New York“.

Doch was können Bands tun, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern? Bands könnten versuchen, gezielt nur Konzerte in Städten oder stadtnahen Gebieten mit gutem öffentlichen Nahverkehr zu buchen, heißt es im Guide. Sie könnten ihre Locations im Green Club Index aussuchen, einem Pilotprojekt, das als erstes nationales Projekt die Energieeffizienz im Clubbereich zum Thema macht. Sie könnten ihre Fans bitten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder Fahrgemeinschaften zu bilden und z.B. einen früheren Einlass mit ÖPNV‐Ticket oder mit ÖPNV-Tickts kombinierte Konzerttickets anbieten. Fans können ihrerseits auf der Plattform Green Mobility den CO2-Rechner berechnen lassen, wieviel CO2 durch die Nutzung verschiedener Verkehrsmittel anfällt und die Emissionen durch geprüfte Klimaschutzprojekte ausgleichen.

Die Autor*innen setzen auf die Tatsache, dass Musiker*innen für viele Menschen eine große Vorbildwirkung haben oder zumindest Aufmerksamkeit erzeugen. Wenn eine bekannte Band ihre Shirts fair und ökologisch herstellen lässt, achten ihre Fans beim nächsten Shopping vielleicht auch auf die Herkunft der Klamotten. „Wir glauben vielmehr daran, dass die am Tourgeschehen beteiligten Personen und Firmen erfahren genug sind, das grüne Thema in einer zum jeweiligen Künstler passenden Weise zu kommunizieren. Dabei können dezente Botschaften, wie Eintragungen im Tourtagebuch zum leckeren regionalen Öko‐Bier aus der Uckermark genauso zu einem Umdenken in der Gesellschaft beitragen wie große Ankündigungen, dass nur noch in Clubs mit Grünem Strom gespielt wird“, heißt es im Guide. Er umfasst außerdem Tipps zum Sprit sparen über Bio-Essen hin zur klimafreundlichen Übernachtung und nachhaltigem, fair produziertem Merchandising. Nachhaltig produzierte T-Shirts & mehr bekommt ihr im Ubrigen u.a. bei Continental. (Foto: clubliebe)

Zahlreiche Musiker*innen und andere Akteur*innen setzen bereits klimaschonende Maßnahmen im Bereich ihrer Möglichkeiten um. Elen hat ihr Album „Blind über Rot“ klimaneutral und aus ressourcenschonendem Recyclingpapier, -karton und Vinylgranulat produzieren lassen. Der durch Produktion und Versand entstandene CO2-Fussabdruck wurde durch die Unterstützung eines Klimaschutzprojektes im Amazonas-Regenwald ausgeglichen. Der Geigenbauer Willi Balsereit in Köln produziert nachhaltige Instrumente und Bögen aus heimischen, statt aus Tropenhölzern.

Auch Booker*innen sollten Verantwortung übernehmen, heißt es im Konzeptpaper von Clubtopia. „Wir setzen auf lokales Booking, kombiniert mit den internationalen Menschen, die ohnehin in Berlin leben. Damit kann man ein wunderbares Programm machen – und die lokale queere Szene fördern,“ wird Marcel Weber vom SchwuZ zitiert. Nachhaltigkeit habe auch eine soziale Dimension: Als einer der wenigen Clubs in Berlin beteiligt sich das SchwuZ am berlinpass, der Menschen mit wenig Einkommen vergünstigte Eintrittspreise gewährt. Faire Getränkepreise sind ebenso wichtig wie die Unterstützung queerer Beratungsangebote oder die Ausgabe von Freikarten an Geflüchtetenunterkünfte, damit alle partizipieren können. „Auch das ist ein Nachhaltigkeitsaspekt, der uns wichtig ist“, sagt Weber. Die Annahme, dass Hedonismus und Nachhaltigkeit nicht zusammengehen, kann er nicht bestätigen.

Bands müssen nicht bei Null anfangen, es gibt jede Menge best practices im Green Touring Guide zu finden. „Viele unserer Bands lassen sich die Backline vor Ort stellen und reisen nur noch mit dem Zug. Bahnfahren ist geil: Komfort und Umweltschutz. Innerdeutsche Flüge sind bei uns verboten,“ sagt Julian Hölscher von Handshake Booking. Der Guide listet auch Webadressen, wo man bei der Auswahl umweltschonender Tourtransporter Hilfestellung bekommt. Im Übrigen haben sich Dienstleister wie der Bassliner, der als Direktbus aus den deutschen Großstädten zu vielen Festivals fährt, genauso etabliert wie Online-Plattformen für Mitfahrgelegenheiten (gibt es auch für Festivals: fahrfahraway).

Aus dem Projekt der Popakademie ist auch das Green Touring Network entstanden. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, Künstler*innen und Akteure der Musikindustrie dabei zu unterstützen, einen aktiven Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Seit 2020 wird es unter der Leitung von Fine Stammnitz zusammen mit einem wachsenden Team an Musik- und Umweltliebhaber*innen mit Leben gefüllt, um die Musikindustrie dazu zu bewegen, einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Im ersten Corona-Lockdown machten sie mit der Kampagne „Stay At Home #changeyourstrom“ von sich reden. Die Idee: Jetzt wo eh alle zuhause sind, können wir Dinge tun, die schon lange auf der To Do-Liste stehen. Beispielsweise zu 100% Ökostrom wechseln

Das Netzwerk gehört auch zu den Gründungsmitgliedern von Music Declares Emergency in Deutschland. Dieser Zusammenschluss ist eine Gemeinschaft aus Künstler*innen, Organisationen und Akteur*innen der Musikbranche, die seit dem Start im Juli 2019 zum Schutz des Planeten und als Teil der Klimabewegung über den Klima-Notstand aufklärt und auf ein sofortiges Handeln abzielt. Zu den bisherigen über 6000 Unterzeichner*innen zählen auch viele deutsche Bands wie Deichkind, Kat Frankie, Giant Rooks, FKP Scorpio, Jasmin Wagner, Die Höchste Eisenbahn und viele mehr. In der Deklaration haben sich die Künstler*innen verpflichtet, ihren Einfluss zu nutzen, um Gespräche über den Klimanotstand in den Mainstream der öffentlichen Debatte zu bringen. Bei der aktuellen T-Shirt-Kampagne #NOMUSICONADEADPLANET zeigen Künstler*innen wie Anna Calvi (Foto), zu welchen Klimaschutzmaßnahmen sie sich selbst verpflichten.

Wer sich als Veranstalter*in beraten lassen möchte, kann sich an Vera Hefele und Teresa Trunk wenden, die im Dezember 2020 das Projektbüro WHAT IF für nachhaltige Kultur gegründet haben. Die zertifizierten Transformationsmanagerinnen für nachhaltige Kultur bieten Festivals und Kulturbühnen an, für sie ein Nachhaltigkeitskonzept zu erstellen.

Auch bei den Labels tut sich einiges. Ebenfalls im April 2022 verkündeten die Beggars Group und Ninja Tune – zwei der größten unabhängigen Plattenlabel weltweit – ehrgeizige, branchenführende Umweltziele. Beide haben sich verpflichtet, bis Ende 2021 klima- und kohlenstoffneutral und darüber hinaus CO2-negativ zu werden. Ninja Tune und Beggars sind Gründungsmitglieder der IMPALA Sustainability Taskforce, die im März 2021 ins Leben gerufen wurde, um unabhängige europäische Labels zu ermutigen, gemeinsam an Nachhaltigkeitsthemen zu arbeiten. Das Programm besteht aus einer Klima-Charta, übergeordneten Zielen und freiwilligen Tools für IMPALA-Mitglieder.

Beide Unternehmen konzentrieren sich bei ihren Maßnahmen auf Bereiche, in denen sie die größten Umweltauswirkungen haben. Zu den Initiativen gehören die Förderung der Umstellung von Presswerken auf erneuerbare Energien, die Reduzierung der Auswirkungen des Frachtverkehrs und die Minimierung von Geschäftsreisen. Darüber hinaus haben beide Unternehmen in ihren Londoner Büros Systeme für erneuerbare Energien installiert. Als Priorität werden die Unternehmen die internen und mit der Lieferkette verbundenen Kohlenstoffemissionen in einem Maße reduzieren, das mit dem Ziel des Pariser Klima-Abkommens übereinstimmt, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dies bedeutet eine Reduzierung der Gesamtemissionen um 46 % bis 2030. Auch die Abschaffung der CD-Hüllen (sog. „Jewel Cases“) bei allen Veröffentlichungen der letzten zwölf Jahre, die Umstellung von 180 g- auf 140 g-Vinyl, die Verwendung von FSC-Karton und -Papier für die Verpackung sowie die langjährige Unterstützung von Umweltgruppen wie Greenpeace, Extinction Rebellion und The Rainforest Trust stehen auf der Agenda.

Dass sich die Mühe lohnt, zeigen auch neuere Musikpreise. Den diesjährigen APPLAUS Preis für Nachhaltigkeit und Awareness gewannen z.B. SO36, silent green, u.a. Bei den VIA VUT Awards war der Pianist und Komponist Martin Kohlstedt nominiert, der im Rahmen seines Waldprojekts für jedes verkaufte Konzertticket einen Baum in seiner Heimat Thüringen pflanzt. Außerdem war hier das oben erwähnte Green Touring Network nominiert. 2015 und 2016 gewannen Das Fest und das Feel Festival den Green’n’Clean Award der European Festival Association YOUROPE. Im Januar 2020 wurde das OpenAir St.Gallen von den European Festival Awards mit dem Green Operations Award für sein langjähriges Engagement in Sachen Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Die bekam das Festival, weil es seine Abfallmenge durch die Einführung eines Zeltdepots (Rückgabequote 2019: 92 Prozent) und die Verwendung von Mehrwegbechern (Rückgabequote 2019: 95 Prozent) jährlich reduzieren konnte. Auf dem ganzen Gelände wird ausschließlich Schweizer Fleisch angeboten und bei der Anreise mit dem Zug erhalten Festivalbesucher*innen 50% Rabatt auf die Hin- und Rückfahrt. Außerdem wird nur noch eine reduzierte Anzahl Parkplätze angeboten. 2019 sind rund 83% der Besucher*innen mit der Bahn, dem Rad oder zu Fuß zum Festival gereist – bis vor 12 Jahren waren es erst 47%. Seit 2019 kompensiert das Open Air St. Gallen seine CO2-Restemissionen in Klimaschutzprojekte. Damit ist es als erstes der großen Schweizer Openair Festivals klimaneutral. (Foto: Marius Joe Pohl)

Veranstaltungen zum Thema

Die Deutsche Jazzunion veranstaltet in den nächsten Wochen die Digitale Akademie Insight Out. Über zwei Semester werden bis Mitte 2022 digitale Workshops, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen stattfinden, die sich gezielt an professionelle und angehende Jazzmusiker*innen und Jazzpädagog*innen richten. Nach einer Einführung in das diversitätssensible Arbeiten geht es am 02.12. um „Klassismus im Kulturbereich“, am 09.12. um „Die Rolle von Kulturakteur*innen im Nachhaltigkeitskontext“ und am 16.12. um „Nachhaltiges Veranstalten“, mit Konstanze Meyer (Clubtopia), u.a. Zu den Veranstaltungen könnt ihr euch hier anmelden.

Der nächste Future Party Lab von Clubtopia findet am 04.12.2021 und findet im Crack Bellmer auf dem RAW-Gelände in Berlin Friedrichshain statt (kostenlos, aber mit Anmeldung, 2G+). Der Abend wird auf Vimeo übertragen.

Die Frankfurter Brotfabrik hat 2019 an dem Projekt „klimaneutrale Konzertveranstaltungen“ teilgenommen und schon einiges seitdem erreicht. Bei einem Netzwerktreffen soziokultureller Zentren im Januar 2020 war frau sich aber einig, am Thema dranbleiben zu wollen. Die Veranstaltungsreihe On The Long Run sollte vom 18.-19.12.21 das Nachhaltigkeits-Symposium EOS-05: PERSPEKTIVEN – Über Plattformen und Strukturen, für Nachhaltigkeit und Digitalisierung, von Clubkulturen sollte ausgewählte Akteur*innen und Aktivist*innen, Künstler*innen und Start-Ups zusammenführen, die über ihre Erfahrungen berichten. Leider musste die gesamte Reihe aufgrund der aktuellen Entwicklung verschoben werden.

Titelbild: dj-lab.de