„Ein weibliches Genie – ein Unding. (Fehlen von Mut und Persönlichkeit)“ Johann Nepomuk Brischar, Kirchenhistoriker
„Ein männlicher Künstler wird mit 28 zum Genie erklärt und bleibt das dann für Allezeit. Das gibt es bei Frauen nicht.“ Filmemacherin Miranda July (SZ 2017)
Der Begriff des Genies begann ab dem 18. Jahrhundert die ästhetischen Debatten zu dominieren. Er stand einerseits für den aus sich selbst heraus schaffenden Künstler, der die Natur nicht nur nachahmt, sondern vollendet, andererseits für dessen übermenschliche oder göttlich inspirierte Begabung. Diese wurde jedoch nur Männern zugesprochen: Frauen, so die damalige Wissenschaft, könnten lediglich empfangen und nachahmen. Künstlerische Leistungen von Frauen* wurden darum nicht als Zeichen ihres Genies betrachtet, sondern als Spielerei oder frühreife Fingerfertigkeit interpretiert. So gab es durchaus weibliche* Wunderkinder – Maria Anna Mozart und Fanny Mendelssohn sind berühmte Beispiele – diese hatten jedoch als Erwachsene ihre Rolle als Ehefrau und Mutter auszufüllen und wurden nicht in der gleichen Weise gefördert wie ihre Brüder*. Fanny Mendelssohn-Hensel hatte das Glück, dass ihr Ehemann ihre Kompositionstätigkeit schätzte und förderte. Dennoch steht sie auch heute noch im Schatten ihres wesentlich berühmteren Bruders und muss regelmäßig wiederentdeckt werden.
Die zweite Rolle, die Frauen im künstlerischen Schaffensprozess zugesprochen wurde, war die der Muse, ursprünglich ebenfalls antike Gottheiten. Auf die Neuzeit umgedeutet waren sie Quelle der Inspiration, die ihnen jedoch selbst nicht zur Verfügung stand. Frauen*, die Teil der Kunst- und Kulturszene sein wollten, konnten sich diese Rolle zwar durchaus zu Nutze machen und etwa durch Liaison mit berühmten männlichen Künstlern Zugang zum engeren Kreis der „Genies“ ihrer Zeit erhalten. Allerdings setzten sie damit ihre gesellschaftliche Reputation aufs Spiel. Ein berühmtes Beispiel ist Alma Mahler-Werfel, die als Komponistin weiterhin nicht im Bewusstsein der meisten Musikkenner*innen ist, wohl aber als Muse und Femme Fatale.
Die Rollenbilder, die man Frauen* zugestand, hatten also ganz praktische Folgen für ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Dass es in der Geschichte so wenige Frauen* gibt, die die gleiche künstlerische Qualität erlangen wie ihre männlichen Kollegen, ist also einerseits kein Zufall, dient aber andererseits bis heute als Argument dafür, Frauen* den Geniestatus zu verweigern. Linda Nochlin zeichnet diesen Zusammenhang in einem Artikel von 1971 am Beispiel bildender Künstlerinnen* im 19. Jahrhundert nach. Ein vollwertiger Künstler musste in dieser Zeit mit Aktstudien in Anatomie ausgebildet werden. Aus Gründen der Schicklichkeit war Frauen* der Zugang dazu jedoch verwehrt. Sie mussten sich mit anatomischen Studien an einer Kuh begnügen. Die weiblichen* Aktmodelle selbst – die hier wieder die Rolle des künstlerischen Objekts, also der Muse einnahmen – waren dagegen von der guten Gesellschaft (und erst Recht dem Status als eigenständig kreative Künstlerinnen*) ausgeschlossen. Die ersten Malerinnen*, die Aktbilder malten wie Paula Modersohn-Becker 1906, oder sich gar vom Aktmodell zur Malerin weiterbildeten wie ihre Zeitgenossin Suzanne Valadon, lösten heftige Skandale aus.
Auch die Kritik an dieser Geschlechterverteilung ist aber nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert gab es immer wieder Frauen* – zum Beispiel Madame de Staël – die sich selbst als „weibliches Genie“ bezeichneten. Damit revolutionierten sie allerdings nicht den Begriff des Genies selbst, sondern beanspruchten für sich selbst männliche Eigenschaften. Die Koppelung von Genie und Männlichkeit blieb über diesen Umweg also bestehen.
Und heute? Philosophisch wurde der Geniebegriff spätestens in der Postmoderne gemeinsam mit dem Autor für tot erklärt. Die Wissenschaft ist in Punkto Gender viel weiter. Und in der Musikindustrie finden sich heute viele weibliche* Stars. Können wir die Geschichte eines diskriminierenden Begriffs also abhaken?
Studien und Erfahrungsberichte sagen etwas anderes. Eine Studie aus den USA von 2015 ergab, dass Männer als kreativer eingeschätzt werden als Frauen*, auch wenn sie die selben Ergebnisse präsentieren. Dabei hielten die Studienteilnehmer*innen die Frauen nicht unbedingt für weniger kompetent, sondern sahen den Unterschied in der Tatkraft („agency“), die sie den Männern eher zuschrieben. Gleichzeitig sahen sie die Männer als preiswürdiger an. Sie machten also unbewusst immer noch einen Unterschied zwischen nachahmendem („weiblichen„) Talent und schöpferischem („männlichen„) Genie. Passend zu diesen Ergebnissen arbeitet die Sängerin und Musikwissenschaftlerin Lena-Larissa Senge 2019 heraus, dass genau in den Fächern, in denen traditionell angeborenes Können und Begabung als Voraussetzung für Erfolg gelten – also die MINT-Fächer, Philosophie und alle künstlerischen Fächer – der Gender-Gap besonders groß ist. So liegt bei Dirigent*innen der Gender-Pay-Gap bei 44%, fast doppelt so viel wie im deutschen Gesamtdurchschnitt. Und auch wenn im Bereich Musik inzwischen sehr viele Frauen* tätig sind, stellte die Orchesterstudie des Deutschen Musikrats 2016 fest: zwar ist der Frauenanteil in den deutschen Orchestern inzwischen hoch; je prestigeträchtiger die Stellen jedoch sind, desto höher ist die Männerquote. Weiterhin scheint es also so zu sein, dass wir musikalisches Genie eher Männern zuschreiben – auch wenn wir das heute nicht mehr mit biologistischen Theorien zu rechtfertigen suchen.
Und immer noch setzen wir uns, wenn wir uns für Frauen*förderung in der Musik einsetzen, dem Verdacht aus, wir täten dies auf Kosten der Qualität. Dann begegnen uns Aussagen wie „Es gibt einfach keine „großen“ Komponistinnen oder „Wenn ich die Wahl habe, eine Frau oder einen Mann einzustellen, kommt es mir doch auf die Musikalität an und nicht auf das Geschlecht!“
Wenn wir nicht das alte Bild vom männlichen Genie in unseren Köpfen hätten, würde uns dagegen sofort auffallen: Musik ist eine extrem voraussetzungsreiche und lernintensive Kunstform. Es gibt keinen „großen“ Musiker, der nicht viele Jahre damit zugebracht hätte, sein Instrument zu üben, von den anderen „Großen“ oder ihren Werken zu lernen und der sich um viele andere Belange seines Lebens alleine kümmern muss.
Und es würde uns auffallen, dass die Frage „Warum gibt es keine großen Musikerinnen*?“ eigentlich so formuliert werden muss: „Warum gibt es keine Musikerinnen*, für die sich Musikwissenschaftler*innen, Kritiker*innen, Publikum und die Nachwelt so stark interessieren, dass sie als unabdingbar für die Beschäftigung mit der Musik insgesamt gelten?“ Genau das bedeutet es nämlich, in den musikalischen Kanon aufgenommen zu werden. Dieser Kanon prägt unser Verständnis davon, was „große“ Musik ist, und er prägt uns auch emotional: Musik, mit der wir intensive Erinnerungen verbinden, berührt uns stärker. Und diese emotionale Berührung ist wiederum ein Kriterium dafür, was wir als große Musik bezeichnen. Alle Abweichungen von diesem Kanon müssen gerechtfertigt werden. Und wenn man sich für eine bestimmte Programmwahl rechtfertigen muss, ist das wieder der beste Beweis, dass es sich nicht um große Musik handeln kann.
Es ist eine interessante Frage, wie Kunst eigentlich funktionieren kann, jenseits von solchen Kategorien. Wie können wir die Kunst von Vorstellungen wie (göttlicher) Inspiration oder übermenschlichem Genie befreien, aber trotzdem den besonderen Wert erhalten, den sie für uns hat? Wie funktioniert Kunst, wenn sie weder zur reinen vermarktbaren Dienstleistung werden, noch auf Personenkult fußen soll, der grundsätzlich bestimmte Menschengruppen ausschließt?
Wir wollen weiterhin besonders gute Musik hören. Wir wollen uns inspirieren lassen. Wir wollen es Musiker*innen ermöglichen, ihr Leben ihrer Kunst zu widmen, damit auch in Zukunft gute Musik geschrieben, produziert und aufgeführt wird. Und wir wollen das tun, ohne an überkommenen Klischees festzuhalten. Damit das zumindest im Ansatz möglich wird, sollten wir uns der alten Denkmuster bewusst sein, die unsere Vorstellung von „großer“ Kunst prägen, und sie kritisch hinterfragen. Wir sollten Kunst als eine Entfaltungsmöglichkeit begreifen, die zwar lernintensiv ist, aber grundsätzlich allen Menschen offensteht; die wir sehr wertschätzen und die wesentlich zu unserer Lebensqualität beiträgt. Wir sollten uns bewusst sein, dass es kein Zufall ist, wenn uns als erstes weiße, männliche Komponisten und Dirigenten einfallen, wenn man uns nach unseren musikalischen Helden fragt. Und wir sollten uns darauf einlassen, neue Held*innen in unsere Köpfe, und damit auch in unsere Konzertsäle und Clubs aufzunehmen.
(Beitragsbild: Atelierstudien an der Pennsylvania Academy um 1855, Malerinnen* üben Anatomiestudien an einer Kuh.)
Dieser Text erschien zuerst in der Chorzeit vom Dezember 2021. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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Anmerkung zum Gendern: Wenn es um Geschlechtszuschreibungen und traditionelle Rollenvorstellungen geht, wurden in den zitierten Diskussionen Gender Minorities nicht eingeschlossen und mitgedacht. Darum habe ich in diesem Kontext das Gendersternchen weggelassen und die Begriffe kursiv gesetzt. Auswirkungen hatten und haben diese Vorstellungen jedoch auf alle Geschlechter. Wenn es um Personengruppen geht, nutze ich darum unser gewohntes Sternchen. Direkte Zitate wurden in der Schreibweise übernommen, wie ich sie vorgefunden habe.