Jetzt sind wir bald in den ersten Zwanzigern des neuen Jahrtausends und immer noch ist es nicht ungewöhnlich, dass wir bei der Arbeit an unseren Festivalreports auch bei großen Veranstaltern auf Line-Ups völlig ohne Frauenbeteiligung stoßen.
Glücklicherweise engagieren sich aber national und international immer mehr Festivalmacher nicht nur dafür, ausgeglichenere Programme zusammenzustellen, sondern auch die Hintergründe zu reflektieren, die dazu führen, dass die Männer weiterhin die große Mehrheit der Musiker*innen stellen und aktiv gegen diese Mechanismen anzugehen.

Die Jazztage im Theaterhaus Stuttgart haben dieses Jahr einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Im letzten Jahr waren Frauen im Line-Up Mangelware. „Das ist uns passiert“, sagt der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier den Stuttgarter Nachrichten, „und wir haben es nicht gemerkt. Es wird nicht mehr passieren.“

Wichtiger Akteur zu diesem Thema ist das Reeperbahnfestival, das Mitinitiator der europäischen Initiative Keychange ist, bei der sich schon über 150 Festivals verpflichtet haben, bis 2022 mit 50:50 ein ausgeglichenes Line-Up aufzustellen. Dieses Jahr waren Vertreter des Reeperbahnfestivals unter dem Motto Empowering Women In Music in Texas zu Gast bei South by South West. Auf einer Paneldiskussion im Rahmen der Kampagne Deutschlandjahr USA sprachen sie mit ihren amerikanischen Kollegen über ihre Initiative im Vergleich mit dem neugegründeten US-Programm Task Force of the Grammy Academy Initiative on Recorded Music. Teil der Kooperation war auch ein Konzert am 11. März mit internationalen Künstlerinnen, unter anderem mit der neuen Keychange-Botschafterin Mavi Phoenix (AT), der Band Gurr (DE), die auch in der Panel-Diskussion zu Wort kam, Lowly (DK) und SOAK (UK).

Auch in der Schweiz machen Musiker*innen und Programmplaner*innen sich auf die Suche nach der weiblichen Note im Jazz. „Wo sind die Frauen im Schweizer Jazz?“, heisst das Thema der Schaffhauser Jazzgespräche, die die Saxophonistin Sarah Chaksad als Kuratorin im Rahmen des Jazzfestivals Schaffhausen am 25. Mai organisiert. Chaksad leitet die einzige Schweizer Big Band mit Frauenanteil – 4 von 18. Die Aargauer Zeitung interwievte die Musikerin zur Situation in der Schweiz. Und der SRF berichtet von der „Diversity Roadmap“, einer Initiative der beiden Branchenorganisationen Helvetia Rockt! und Petzi. Auf dem Flyer, den sie am „m4music“-Festival verteilten, zeigen sie auf, wie man im Programm oder auch den Organisationen der Schweizer Clubs und Kulturfestivals vielfältiger werden kann.

Das Festival „Jazz ohne Gleichen“ des Kulturvereins Rittmarshausen e.V. steht in seiner vierten Ausgabe in diesem Sommer gleich ganz unter dem Motto „Frauen machen Jazz“. Die Macher*innen haben angekündigt, das Festivalprogramm 2019 rein weiblich zu besetzen. Damit wollen sie explizit die bislang schwache Position der Frauen als Instrumentalistinnen in diesem Genre stärken. Zugleich sollen insbesondere Frauen und Mädchen ermutigt werden, sich für den Jazz als musikalische Kunstform zu interessieren und selbstbewusste Schritte nach vorne zu wagen und die Vernetzung unter den Musikerinnen gefördert werden. Erwartet werden Musikerinnen wie die Pianistin Julia Hülsmann und die Saxophonistin Nicole Johänntgen sowie zehn junge Musikerinnen der aufstrebenden Bigband SIEA aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ein Symposium beschäftigt sich im Rahmen des Festivals mit „Frauen machen Jazz“, Musikerinnen leiten Workshops. Außerdem ist eine musikalische Lesung über Billy Lee Tipton geplant, der als Mann in den 1930er- und 1940er-Jahren eine Jazz-Karriere als Pianist und Saxophonist hinlegte – und der eigentlich eine Frau war, wie sich später herausstellte. Weitere Beiträge insbesondere von Musikerinnen aus der Region werden noch angefragt.

Auch in Übersee stehen die Zeichen auf Wandel. In der New York Times berichtet Maya Salam unter dem Titel „Why Music Festivals Need More Beyoncés“ über die Diskrepanz zwischen der Musikindustrie, in der immer mehr Künstlerinnen Erfoglsrekorde brechen, und den immer noch männlich dominierten Festivallineups. Aufhänger ist die Netflix-Doku “Homecoming,” Beyoncés Headliner-Show auf dem Coachella Festival 2018. Sie war die erste schwarze Frau als Headlinerin in der Geschichte des Festivals, und laut der Gruppe Book More Women, die die Frauenbeteiligung an Line-Ups großer Festivals in den USA dokumentiert, bleibt sie weiterhin die Ausnahme: das Festival war sowohl letztes als auch dieses Jahr nur zu 35% mit Frauen besetzt.

Die kanadische Zeitung Ottawa Citizen beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema und veröffentlichte ein Interview mit der Catherine O’Brady, Direktorin des Ottawa Jazz Festival über ihre Entscheidung, das Festivallineup dieses Jahr und in den nächsten Jahren zu gleichen Teilen mit Frauen und Männern zu besetzen. Sie spricht über die Vorbehalte bei Verantwortlichen anderer kanadischer Festivals (die bis auf eine weitere Frau durchgehend männlich sind), und über Herausforderungen und Chancen ihrer Initiative. “Ich bin immer wieder frustriert von der geringen Anzahl von Frauen auf nordamerikanischen Bühnen im Vergleich zu Europa – nicht nur als Sängerinnen, sondern als Bandleaderinnen, Komponistinnen, Arrangeurinnen, Instrumentalistinnen und so weiter“, erzählt O’Brady, „Wenn man einmal begonnen hat, nach der Arbeit von Frauen zu suchen und ihre einzigartigen musikalischen Ideen anzuhören, fragt man sich eigentlich nur, warum wir das noch nicht viel mehr machen“.

Wir freuen uns sehr, dass neben Festivals wie dem W-Festival, die von vornherein als Plattform für weibliche Musikerinnen konzipiert sind auch die großen Musikfestivals nach und nach merken, dass Frauen in der Musik der Gegenwart eine selbstverständliche und wichtige Rolle spielen.

(Beitragsbild: Kat Frankie, Mitgründerin bei Keychange. Foto: Rolf Arnold)

Das Reeperbahnfestival war im Jahr seiner Entstehung 2006 noch als reines Musikfestival konzipiert, doch bereits drei Jahre später wurde ein umfangreiches Kunstprogramm sowie eine Business-Plattform für Unternehmen und Organisationen aus der internationalen Musik- und benachbarten Digitalwirtschaft geboten. Vor allem die gleichzeitig stattfindende Konferenz hat sich zu einem Medium entwickelt, das die großen Zukunftsfragen nicht nur der Musikwirtschaft, sondern unserer Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt und Lösungsvisionen entwirft. Neben dem Festival, das vielversprechende Newcomer*innen fördert, ist also ein regelrechter „Zukunftskongress“ entstanden. Fragen nach einer deutlichen politischen Haltung von Künstler*innen, nach dem, was Kunst darf (und was nicht), wie der Gender Gap überwunden und der veränderten Mediennutzung begegnet werden kann und vieles mehr.

Die im vergangenen Jahr gestartete Initiative „Keychange“ der britischen PRS Foundation, bei der das Festival mitgewirkt hat, hebt den gesellschaftspolitischen Anspruch der Macher*innen auf eine neue Ebene. Keychange setzt sich für die Stärkung der Rolle der Frau in der Musik ein und fördert die internationale Vernetzung und Auftrittsmöglichkeiten von Musikerinnen und Musikwirtschaftenden gezielt beim Zugang zu neuen Märkten. Die Initiative hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, dass 2022 50 Prozent der Festivalmitwirkenden Frauen sein sollen.

Auch die im Rahmen des Festivals stattfindenden VUT Indie Days wirken am Programm mit. In diesem Jahr wird es bei der Konferenz also einmal mehr darum gehen, eine Art „moralischen Kompass“ für die Musikindustrie zu entwickeln und zu diskutieren.

Programm

Gründerin der HipHop-Agentur „Die Marina“: Marina Buzunashvilli (Foto: Robert Maschke)

FRAUEN IM RAP 20.09. (Uhrzeiten stehen noch nicht fest)
Marina Buzunashvilli (Agentur Die Marina), Miriam Davoudvandi (Chefredakteurin splash!Mag), Sookee (Musikerin) und Salwa Benz (Journalistin Radio Fritz) diskutieren darüber, ob es immer noch nötig ist, Frauen im Rap zu thematisieren.

IMPROVING AN ARTIST’S MENTAL HEALTH 20.09.
Beim Vortrag von Sarah Anna Psalti-Helbig geht es um die Gesundheit von Musiker*innen und was gegen Angst, Depressionen usw. getan werden kann. Psalti-Helbig gibt ein monatliches Online-Zine über psychische Gesundheit heraus und ist seit 2016 Beiratsmitglied von DOMUS – der deutschen Lobbyorganisation für Künstlerrechte, Gründungsmitglied der International Artists Organisation.

THE PATH TO A HAPPY & HEALTHY CAREER 20.09.
Hier können sich Musiker*innen & das Festivalpublikum von einer Food-Coach, Diplom-Psychologin und einer Personal Trainerin erklären lassen, welche Wege zu einem gesunden und glücklichen Lebensstil führen, auch unter erschwerten Bedingungen, die Musiker*innen nicht selten zu schaffen machen (wenig Schlaf, Langstreckenflügen, volle Terminkalender, ständiger Erfolgsdruck usw.).

Kinnie Starr (Foto: Robin Gartner)

WOMEN IN MUSIC 20.09.
Eine Gesprächsrunde über den Status Quo, Verbesserungsbedarf und Zielvorgaben für das künftige Miteinander von Frauen und Männern im Musikgeschäft der Gegenwart und in naher Zukunft u.a. mit der kanadischen Musikerin Kinnie Starr.

NEUE ARBEITSWELTEN 20.09.
Diese Veranstaltung beschäftigt sich mit der Frage: Wie kann die Musikwirtschaft in Zukunft, ungeachtet der wirtschaftlichen Herausforderungen, eine für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen vorteilhafte Umgebung schaffen?

OLL INCLUSIVE 20.09.
… nimmt die Generation 60+ in den Fokus, wie sie aktuell und zukünftig von der Musikwirtschaft bedient werden kann und welche Chancen sich für Künstler*innen und Kulturanbieter*innen dabei eröffnen.

POP UND POPULISMUS 20.09.
Wie ist es um die freiwillige Selbstkontrolle der Musikwirtschaft bestellt? Welche Verantwortung haben Künstler*innen und die Teams hinter den Kulissen dafür, dass der Populismus – die Wiederholung einfacher Wahrheiten und niederer Vorurteile – sich zum in der Breite akzeptierten kulturellen Stilmittel aufschwingt? Ist es alles halb so schlimm oder bereits der Soundtrack zu einer Politik zwischen Fake News und Fremdenangst?

ANTISEMITISMUS, VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN, MUSIK 20.09.
Auch Antisemitismus kommt in der Musik vor, vor allem im HipHop haben menschenverachtende Inhalte in jüngster Zeit Konjunktur. Besonders besorgniserregend: Musik ist ein wichtiger Bezugspunkt für Kinder und Jugendliche, Künstler*nnen sind oft Vorbilder. Bei dieser Session befassen sich daher die Springstoff-Labelbetreiberin Anna Groß, die Journalistin und Künstlerin Azadê Peşmen u.a. mit der Frage, was getan werden muss, damit menschenverachtendes Gedankengut als solches erkannt, eingeordnet und entlarvt wird. Wie sollte die Musikbranche ihrer Verantwortung nachkommen?

INKLUSIVE KULTURARBEIT 21.09.
… behandelt die Fragen, ob es eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung gibt und was der Kulturbereich, insbesondere die Musikwirtschaft auf dem Gebiet der Inklusion tut und noch tun sollte. Ein Workshop vermittelt die Grundlagen der barrierefreien Veranstaltungsplanung und –kommunikation.

THE FORGOTTEN AUDIENCE 21.09.
… nimmt die 80 Millionen Menschen in der EU in den Blick, die entweder physisch oder psychische Behinderungen haben und von der Musikwirtschaft vernachlässigt werden. Es gibt kaum Zugang zu musikalischer Ausbildung, keine Förderung von Talenten mit Behinderung, wenige behindertengerechte Live-Venues und nicht mal einen Ticketing Service im Internet, der barrierefrei wäre. Der Vortrag zeigt Wege auf, eine wirklich integrative Welt der Musik aufzubauen.

MUSIC INDUSTRY WOMEN-GET-TOGETHER 21.09.
Ein Treffen von Akteurinnen deutscher und französischer Musiklabels, die darüber sprechen, wie frau eine Plattenfirma gründet und betreibt.

MUSIC IN THE MIDDLE EAST 21.09.
… wagt einen Blick über den (deutschen) Tellerrand: in „Music In The Middle East“ bekommen Vertreter*innen lokaler Musikunternehmen wie Maram Kablawi (Künstlermanagerin Palästinensische Gebiete, Foto rechts) aus dem Iran, Palästina und dem Libanon die Gelegenheit, uns von den Schwierigkeiten, Problemen und Herausforderungen ihrer Märkte zu erzählen und einen Einblick in die unabhängige lokale Musikszene zu geben.

So viel hochkarätiges Programm hat leider seinen Preis: Konferenztickets sind teuer (ab 178.-€ für ein Sessions Only Ticket) und hier erhältlich. Vergünstigungen für Musiker*innen und Unternehmen aus der Region Stuttgart bietet das Popbüro hier an.