Judy Dyble

“Talking With Strangers“

Dieses Album hat Seltenheitswert, denn es kommt nicht oft vor, dass eine Künstlerin sich 45 (!) Jahre Zeit lässt zwischen zwei Album-Releases. Das hat sicher auch etwas mit dem sehr bewegten Leben Judy Dybles zu tun, die keine einfache Frau zu sein scheint. Bekannt wurde sie als Gründungsmitglied der englischen Folk-Rock-Band Fairport Convention, dessen erste Leadsängerin sie 1967-1968 war. Doch noch ehe das erste Album der Band veröffentlicht wurde, war sie schon aus der Gruppe geflogen, obwohl sie als Sängerin noch auf der Scheibe zu hören war. Danach ging es bewegt weiter. Judy Dyble trat über die Jahre in verschiedenen Formationen auf, veröffentlichte die eine und andere Single, überwarf sich immer wieder mal mit Musikerkollegen, zog sich aus gemeinsamen Projekten und schließlich fast komplett aus dem Musikbusiness zurück. Nach über vier Jahrzehnten also ist nun „Talking With Strangers“ erschienen, eine Platte, die man daher fast als Debütalbum bezeichnen kann. Darauf hat sie zahlreiche Musikerkollegen aus ihrer Vergangenheit versammelt (und im Booklet auf einer Fotocollage gewürdigt). Es ist ein sehr persönliches Album geworden: „Alle Songs … sind Schnappschüsse aus meinem Leben. Selbst die Cover-Version von Greg Lake & Pete Sinfields ‚C’est La Vie‘ hat eine Resonanz aus meiner Vergangenheit und wirkt in meine Zukunft hinein“, sagt sie über das Album. Am Persönlichsten scheint mir „Harpsong“ zu sein, ein fast 20 (!) Minuten langes Stück, in dem sie ihr Leben nacherzählt. In dem Song geht es um Jugendträume, zerbrochene Freundschaften und neu eingeschlagene Wege. All das ist zweifelsohne sehr schön für die Sängerin, mit der man sich freut, dass sie zurück zur Musik gefunden hat, doch etwas mühsam für die Zuhörerin. Die Songs auf „Talking With Strangers“ pendeln zwischen Progressive und psychedelischen Folk mit vielen verschnörkelten Passagen, die streckenweise arg schwülstig und manchmal auch etwas monoton klingen. Ein Stück fällt dabei ganz aus dem Rahmen, die traurige, melodiöse und jazzige Ballade „Grey October Day“. In dem Duett mit Singer-Songwriter Tim Bowness geht es um zwei Menschen, die sich verstellen, aus Angst nicht geliebt zu werden, und dadurch genau das bewirken, was sie befürchten. Wehmütige Saxophonsoli zwischen den Strophen verstärken das Gefühl von Einsamkeit. Für ein freudiges Comeback ist „Talking With Strangers“ dann doch sehr melancholisch, und für mich eine Scheibe, die besser in den Herbst passt.

CD, 2013, 7 Tracks + 2 Bonus Tracks, Label: Fixit Records

Tina Adomako

23.04.2013