Diskriminierung durch Gatekeeper

Dass durch #musicmetoo eine breite Debatte angestoßen wird, ist längst überfällig und kann die Musikbranche letztlich nur gerechter und sicherer machen. Als Verein, Veranstalterinnen*, Musikjournal und Netzwerk setzen wir uns seit über 35 Jahren für Frauen* und Mädchen* in der Musikszene ein. Im Zuge unserer Arbeit haben wir viele Musikerinnen* interviewt und Umfragen in unserem Netzwerk durchgeführt. Dabei haben wir zwar nicht von sexueller Gewalt, aber von vielen Diskriminierungen, Zuschreibungen und auch Grenzüberschreitungen erfahren, die viele im Laufe ihrer Karriere ertragen mussten. Meist kamen diese von „Gatekeepern“: sei es der Musikhochschulprofessor, Produzent, Jurymitglied, Labelbetreiber, A&R Manager, Veranstalter oder Journalist. Im Zweifel waren und sind es (cis) Männer, die darüber urteilen, ob frau* als Musikerin* etwas „taugt“ und Karriere machen kann. Leider hat sich daran im Lauf der Zeit nicht viel geändert: Bei der Keychange Studie 2021 gaben 96% der befragten Akteurinnen in der Musikbranche an, dass sie bereits Diskriminierung erlebt hätten.

Beziehungen mit Machtgefälle

In vielen Beziehungen in der Musikbranche gibt es ein Machtgefälle, das missbräuchliches Verhalten begünstigt. Die Regeln, nach denen „gespielt“ wird, sind oft nicht klar. Manche glauben gar, dass für sie gar keine Regeln gelten, wie es sich jetzt beim Fall Till Lindemann aufdrängt. Klar, das ist Sex, Drugs ’n Rock’n’Roll, da wird so manches Auge zugedrückt, weil es eben Stars mit Allüren sind. Und die Groupies sind selbst dran schuld, weil sie ja angeblich Bescheid wissen müssten!

Was sich letztlich zwischen Star und Fan in Backstage-Bereichen und Tourbussen abspielt, wird aber selten bekannt. Umso mutiger sind die Frauen, die sich jetzt trauen, über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten. Nachdem die Bilder und Texte von Shelby Lynn in den sozialen Medien die Runde machten, wechselten sich Fassungslosigkeit und Mitgefühl ab. Der Verdacht kommt auf, dass in der Musikindustrie sexuell übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber anderen Personen gebilligt und geduldet wird und nach wie vor traurige Realität ist. Was hier ans Licht der Öffentlichkeit gelangt, ist systematische sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen*, wie sie Till Lindemann in diversen Publikationen schon seit längerem kommuniziert – welches „künstlerische Ich“ hierfür verantwortlich ist, verändert leider nicht die Tatsache der durch Text und Film geschaffenen Realität.

Täter-Opfer-Umkehr statt Empathie

Genauso schockierend ist, wie in der Gesellschaft damit umgegangen wird. Es kommt wie zu erwarten zu massivem Victim Blaming und Beschuldigungen gegen die Betroffenen. Eine Sensibilisierung den Betroffenen gegenüber sollte wirklich allerspätestens seit der #metoo-Bewegung und Debatte vorauszusetzen sein. Fehlanzeige: viele Stimmen im Netz suchen die Schuld lieber bei den Opfern. Es kommt zu tätlichen Angriffen von Rammstein Fans gegenüber Demonstrantinnen* vor den aktuellen Konzerten, die Anwälte von Rammstein verschicken Unterlassungsklagen an die Betroffenen, um nur ein paar Konsequenzen für die Betroffenen zu nennen. Das alles vor dem Hintergrund, dass es Shelby Lynn nicht gelang, am Tag nach dem Geschehen eine Anzeige bei der Polizei in Vilnius zu erstatten und die Behörden ihr auch sonst erst helfen wollten, nachdem sie sich auf Social Media geäußert hat.

#rammstein ist kein Einzelfall

Deshalb ist eine Plattform wie #musicmetoo so wichtig! „Es ist nicht nur ein Genre, nicht nur eine Band und #rammstein ist kein Einzelfall“, schreiben die Initiator*innen der Plattform #musicmetoo in ihrer aktuellen Pressemitteilung. Die von Queer Cheer, Safe the Dance, MusicSWomen* e.V., MusicTHWomen* und Deutschrapmetoo gestartete Anlaufstelle will nicht nur sexualisierte Gewalt und Sexismus in den Blick nehmen; sie geht noch weiter und beleuchtet die Verschränkungen mit weiteren Problemen in der Musikbranche: Rassismus, Trans-Feindlichkeit, Ableismus, Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung, Herkunft oder Religion. Personen würden zudem mehrfach marginalisiert und befänden sich dadurch in noch schlechteren Ausgangspositionen, sich zur Wehr zu setzen. Deshalb meint der Begriff #musicmetoo alle Formen von Diskriminierung und Grenzüberschreitungen.

Zukünftig soll es auf der Plattform Bildungsangebote und umfassende Infos geben. Außerdem zeigen die dort aufgestellten Forderungen auf, wie Politik, Institutionen, Künstler*innen und alle anderen strukturellen Problemen begegnen können. Die Initiator*innen rufen alle verantwortlichen Akteur*innen und Institutionen der Musikbranche auf, sich zu Awareness und betroffenen-zentrierter Arbeit zu verpflichten und sich über öffentliche Statements zu positionieren. Insbesondere sei es wichtig, dass Künstler*innen mit Reichweite Stellung beziehen. 

Auch die Musikerin Friede Merz hat Machtmissbrauch und emotionale Manipulation an einer deutschen Musikhochschule erlebt. Auf ihrem Blog geht sie in einem ausführlichen Statement darauf ein, wie eine heimliche „Beziehung“ zu dem deutlich älteren Professor Greg Cohen während ihrer Studienzeit in Isolation, Depression und den Verlust des künstlerischen Selbstbewusstseins mündete. Wie aus vielen kleinen Vorfällen schließlich ein massiver Schaden in ihrer Seele entstand und sie sich niemandem anvertrauen konnte, keine Anlaufstellen fand, wo sie über die erlittene psychische Gewalt hätte berichten können. Inzwischen gibt es einige Adressen, die euch in solchen Fällen weiterhelfen:

 

Tipps & Anlaufstellen

Music S Women* organisiert zusammen mit der Themis Vertrauensstelle gegensexuelle Belästigung und Gewalt e.V. einen digitalen Infotalk für Akteur*innen der Musikbranche am 13.07.2023. Die Teilnahme erfolgt mit Anmeldung, es sind 30 Plätze vorhanden.

#musicmetoo setzt sich aktiv gegen Übergriffe und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche ein. Die Plattform bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen anonym und öffentlich zu teilen und darüber das strukturelle Ausmaß des Problems zu zeigen. 

Themis ist eine Vertrauensstelle, an die sich Menschen seit 2019 wenden können, die sexuelle Belästigung oder Gewalt anlässlich ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb der Kultur- oder Medienbranche erfahren haben. Gemeinsam mit der betroffenen Person klärt sie den Vorfall auf und unterstützt bei der Beantwortung der Frage: Was kann ich und was kann mein*e Arbeitgeber*in zu meinem Schutz tun? Die niedrigschwellige Beratungsstelle berät Betroffene, Zeug*innen, Angehörige und Arbeitgeber*innen der Kultur- und Medienbranche kostenfrei juristisch und psychologisch, d.h. sie liefert eine erste juristische Einordnung und bietet psychologische Entlastungsgespräche an. Zusätzlich wird auch eine juristische Beschwerdeführung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz angeboten, die aufgrund des Gesetzeswortlauts jedoch Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende bisher leider noch nicht einschließt. Themis setzt sich gemeinsam mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und anderen Sozialverbänden dafür ein, dass diese Regelungslücke schnellstmöglich geschlossen und der Schutz des AGG ausgeweitet wird. Trotzdem können sich alle Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende gerne an Themis wenden, um eine juristische Ersteinschätzung oder psychologische Unterstützung zu bekommen. Übrigens: Die Vertrauensstelle wird zu 40% von der Staatsministerin für Kultur Claudia Roth gefördert, der Rest wird durch Mitgliedsverbände und Spenden abgedeckt. Das heißt, sie agiert transparent und unabhängig und ist in keiner Weise von Weisungen ihrer Mitgliedsverbände und Spender*innen abhängig. 

Die Ombudsstelle – die „Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung“ des Landes Berlin kam aufgrund des Antidiskriminierungsgesetzes (LADG) 2020 zustande. Das LADG schützt bei Diskriminierung, die von Berliner Behörden und Berliner öffentlichen Einrichtungen, also auch Hochschulen ausgeht. Sie bietet Betroffenen eine Anlaufstelle, die eine kostenlose, unabhängige und vertrauliche rechtliche Einschätzung des Falles nach dem LADG gewährleistet. Die Ombudsstelle handelt nicht nach dem Strafrecht, sondern agiert im Privatrecht, d.h., die Beweispflicht liegt bei den Täter*innen. Vonseiten der Betroffenen braucht es keine strafrechtlich relevanten Beweise, hinreichende Indizien genügen. Besonders im Falle sexualisierter Gewalt, wo es selten Beweise gibt, ist das wichtig.

Deutschrapmetoo ist eine Initiative, die Betroffene von sexualisierter Gewalt innerhalb der Deutschrapbranche miteinander vernetzt. Menschen haben die Möglichkeit, DRMT ihre Erlebnisse zu schildern, diese werden gesammelt und anonymisiert veröffentlicht. Außerdem werden Betroffene bei Bedarf an Psycholog*innen oder Jurist*innen weitergeleitet. DRMT versteht sich als Sprachrohr für die Perspektive von Betroffenen sexualisierter Gewalt. 

Safe the Dance ist eine Agentur für Awareness, Inklusion, Diversity  und Musikindustrie Know-how. Sie hält Schulungen und Ressourcen bereit, hält Vorträge und Workshops und kuratiert und produziert Events.

Queer Cheer – Community für “Jazz” and Improvisierte Musik – ist ein in Berlin gegründetes Kollektiv für queere Musiker*innen. Queer Cheer setzt sich mit intersektionalem Ansatz für die Sichtbarkeit queerer Musiker*innen ein, sowie für Interdisziplinarität und Multiperspektivität  in der Kunst.

Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen: die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V. (bukof) schägt darin 10 Maßnahmen vor, um angehende Künstler*innen aller Sparten bestmöglich zu schützen.

„Sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext – Herausforderungen, Umgangsweisen und Prävention“ von Sabine Blackmore und Heike Pantelmann: Dieses Werk ist eine orientierende Handreichung für alle, die im universitären und/oder Forschungsbereich arbeiten, Personalverantwortung tragen, die Entwicklung von akademischen Einrichtungen begleiten und nicht zuletzt für all jene, die von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt in hochschulischen Kontexten direkt betroffen oder ihr indirekt begegnet sind. Im Beitrag Kunst braucht Nähe. Nähe braucht Regeln. Vom professionellen Umgang mit Grenzen in der musikalischen Ausbildung an Musikhochschulen von Antje Kirschning wird z.B. gezeigt, wie die Hochschulstrukturen und der alltägliche Umgang Grenzüberschreitungen, Diskriminierung und Machtmissbrauch begünstigen. Dies geschieht durch überzogenen Leistungsdruck und Angstmachen als didaktisches Mittel, fehlende Bewertungskriterien, intransparente Auswahlverfahren, unreflektiertes Übernehmen von sexistischen Schönheitsidealen, ein fehlendes normatives Gerüst mit gemeinsam vereinbarten Grundwerten, fehlende pädagogische Vor- und Weiterbildung von Lehrenden sowie Versperrung von Zugängen und Netzwerken. Präventive Maßnahmen müssen verhindern, dass hierarchische Situationen ausgenützt und Abhängigkeiten missbraucht werden. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Frauenbeauftragte, die zu Grenzüberschreitungen und sexualisierter Belästigung ausdrücklich auch Männer und nicht-binäre Menschen berät, empfiehlt die Autorin verpflichtende Weiterbildungen für Lehrende zum Ausbalancieren von Nähe und Distanz und mehrsprachige, unbenotete Seminare für Studierende zum Umgang mit körperlichen und seelischen Grenzen. Abschließend werden drei Vorschläge zur Prävention von Machtmissbrauch, sexualisierter Belästigung und Gewalt gemacht, die über die Hochschulen hinaus in die Kulturbranche hineinwirken würden: Verhaltenskodizes, eine bundesweite Aufklärungskampagne sowie der Einsatz von Intimitätskoordinator*innen.

Online-Broschüre „#HackSexism – Strategien und Maßnahmen gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt auf Festivals & Co“: In der Broschüre werden die Ergebnisse eines im April 2021 stattgefundenen „Social Hackathon“ und eines öffentlichen Calls gebündelt, um den Diskurs zu Sexismus und sexualisierter Gewalt auf Festivals weiter voranzutreiben. Die Broschüre verfolgt zwei Ziele: „All denen Raum und Sichtbarkeit geben, die am Social Hackathon mitgehackt und drei Tage lang intensiv die Köpfe zusammengesteckt haben, um zu diskutieren, an Problemen zu arbeiten, sich zu vernetzen, auszutauschen, zu informieren und weiterzubilden. (…) Außerdem wollen wir dieses Wissen für Festivalbetreibende zugänglich und nutzbar machen. In dieser Broschüre findet sich ein großer Wissens- und Erfahrungsschatz, der unterschiedliche Themen und Perspektiven zu den Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt umfasst. Natürlich sind diese Ergebnisse auf eine Weise unvollständig – Awarenessarbeit, und damit die Bemühung Orte für alle sicherer zu machen, ist ein immerwährender Prozess – aber sie sind eine Sammlung von Eindrücken, Denkansätzen, Ideen für Maßnahmen und damit wertvolles nutzbares Wissen für die praktische Festivalarbeit. Wir wünschen uns, dass dieses Wissen aktiv genutzt und in die Praxis umgesetzt wird. Damit Festivals für alle sicherer werden“.

(Fotos: picjumbo.com, Anete Lusina)

Autorinnen: Verena Höfle & Mane Stelzer