Diskriminierung durch Gatekeeper

Dass durch #musicmetoo eine breite Debatte angestoßen wird, ist längst überfällig und kann die Musikbranche letztlich nur gerechter und sicherer machen. Als Verein, Veranstalterinnen*, Musikjournal und Netzwerk setzen wir uns seit über 35 Jahren für Frauen* und Mädchen* in der Musikszene ein. Im Zuge unserer Arbeit haben wir viele Musikerinnen* interviewt und Umfragen in unserem Netzwerk durchgeführt. Dabei haben wir zwar nicht von sexueller Gewalt, aber von vielen Diskriminierungen, Zuschreibungen und auch Grenzüberschreitungen erfahren, die viele im Laufe ihrer Karriere ertragen mussten. Meist kamen diese von „Gatekeepern“: sei es der Musikhochschulprofessor, Produzent, Jurymitglied, Labelbetreiber, A&R Manager, Veranstalter oder Journalist. Im Zweifel waren und sind es (cis) Männer, die darüber urteilen, ob frau* als Musikerin* etwas „taugt“ und Karriere machen kann. Leider hat sich daran im Lauf der Zeit nicht viel geändert: Bei der Keychange Studie 2021 gaben 96% der befragten Akteurinnen in der Musikbranche an, dass sie bereits Diskriminierung erlebt hätten.

Beziehungen mit Machtgefälle

In vielen Beziehungen in der Musikbranche gibt es ein Machtgefälle, das missbräuchliches Verhalten begünstigt. Die Regeln, nach denen „gespielt“ wird, sind oft nicht klar. Manche glauben gar, dass für sie gar keine Regeln gelten, wie es sich jetzt beim Fall Till Lindemann aufdrängt. Klar, das ist Sex, Drugs ’n Rock’n’Roll, da wird so manches Auge zugedrückt, weil es eben Stars mit Allüren sind. Und die Groupies sind selbst dran schuld, weil sie ja angeblich Bescheid wissen müssten!

Was sich letztlich zwischen Star und Fan in Backstage-Bereichen und Tourbussen abspielt, wird aber selten bekannt. Umso mutiger sind die Frauen, die sich jetzt trauen, über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten. Nachdem die Bilder und Texte von Shelby Lynn in den sozialen Medien die Runde machten, wechselten sich Fassungslosigkeit und Mitgefühl ab. Der Verdacht kommt auf, dass in der Musikindustrie sexuell übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber anderen Personen gebilligt und geduldet wird und nach wie vor traurige Realität ist. Was hier ans Licht der Öffentlichkeit gelangt, ist systematische sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen*, wie sie Till Lindemann in diversen Publikationen schon seit längerem kommuniziert – welches „künstlerische Ich“ hierfür verantwortlich ist, verändert leider nicht die Tatsache der durch Text und Film geschaffenen Realität.

Täter-Opfer-Umkehr statt Empathie

Genauso schockierend ist, wie in der Gesellschaft damit umgegangen wird. Es kommt wie zu erwarten zu massivem Victim Blaming und Beschuldigungen gegen die Betroffenen. Eine Sensibilisierung den Betroffenen gegenüber sollte wirklich allerspätestens seit der #metoo-Bewegung und Debatte vorauszusetzen sein. Fehlanzeige: viele Stimmen im Netz suchen die Schuld lieber bei den Opfern. Es kommt zu tätlichen Angriffen von Rammstein Fans gegenüber Demonstrantinnen* vor den aktuellen Konzerten, die Anwälte von Rammstein verschicken Unterlassungsklagen an die Betroffenen, um nur ein paar Konsequenzen für die Betroffenen zu nennen. Das alles vor dem Hintergrund, dass es Shelby Lynn nicht gelang, am Tag nach dem Geschehen eine Anzeige bei der Polizei in Vilnius zu erstatten und die Behörden ihr auch sonst erst helfen wollten, nachdem sie sich auf Social Media geäußert hat.

#rammstein ist kein Einzelfall

Deshalb ist eine Plattform wie #musicmetoo so wichtig! „Es ist nicht nur ein Genre, nicht nur eine Band und #rammstein ist kein Einzelfall“, schreiben die Initiator*innen der Plattform #musicmetoo in ihrer aktuellen Pressemitteilung. Die von Queer Cheer, Safe the Dance, MusicSWomen* e.V., MusicTHWomen* und Deutschrapmetoo gestartete Anlaufstelle will nicht nur sexualisierte Gewalt und Sexismus in den Blick nehmen; sie geht noch weiter und beleuchtet die Verschränkungen mit weiteren Problemen in der Musikbranche: Rassismus, Trans-Feindlichkeit, Ableismus, Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung, Herkunft oder Religion. Personen würden zudem mehrfach marginalisiert und befänden sich dadurch in noch schlechteren Ausgangspositionen, sich zur Wehr zu setzen. Deshalb meint der Begriff #musicmetoo alle Formen von Diskriminierung und Grenzüberschreitungen.

Zukünftig soll es auf der Plattform Bildungsangebote und umfassende Infos geben. Außerdem zeigen die dort aufgestellten Forderungen auf, wie Politik, Institutionen, Künstler*innen und alle anderen strukturellen Problemen begegnen können. Die Initiator*innen rufen alle verantwortlichen Akteur*innen und Institutionen der Musikbranche auf, sich zu Awareness und betroffenen-zentrierter Arbeit zu verpflichten und sich über öffentliche Statements zu positionieren. Insbesondere sei es wichtig, dass Künstler*innen mit Reichweite Stellung beziehen. 

Auch die Musikerin Friede Merz hat Machtmissbrauch und emotionale Manipulation an einer deutschen Musikhochschule erlebt. Auf ihrem Blog geht sie in einem ausführlichen Statement darauf ein, wie eine heimliche „Beziehung“ zu dem deutlich älteren Professor Greg Cohen während ihrer Studienzeit in Isolation, Depression und den Verlust des künstlerischen Selbstbewusstseins mündete. Wie aus vielen kleinen Vorfällen schließlich ein massiver Schaden in ihrer Seele entstand und sie sich niemandem anvertrauen konnte, keine Anlaufstellen fand, wo sie über die erlittene psychische Gewalt hätte berichten können. Inzwischen gibt es einige Adressen, die euch in solchen Fällen weiterhelfen:

 

Tipps & Anlaufstellen

Music S Women* organisiert zusammen mit der Themis Vertrauensstelle gegensexuelle Belästigung und Gewalt e.V. einen digitalen Infotalk für Akteur*innen der Musikbranche am 13.07.2023. Die Teilnahme erfolgt mit Anmeldung, es sind 30 Plätze vorhanden.

#musicmetoo setzt sich aktiv gegen Übergriffe und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche ein. Die Plattform bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen anonym und öffentlich zu teilen und darüber das strukturelle Ausmaß des Problems zu zeigen. 

Themis ist eine Vertrauensstelle, an die sich Menschen seit 2019 wenden können, die sexuelle Belästigung oder Gewalt anlässlich ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb der Kultur- oder Medienbranche erfahren haben. Gemeinsam mit der betroffenen Person klärt sie den Vorfall auf und unterstützt bei der Beantwortung der Frage: Was kann ich und was kann mein*e Arbeitgeber*in zu meinem Schutz tun? Die niedrigschwellige Beratungsstelle berät Betroffene, Zeug*innen, Angehörige und Arbeitgeber*innen der Kultur- und Medienbranche kostenfrei juristisch und psychologisch, d.h. sie liefert eine erste juristische Einordnung und bietet psychologische Entlastungsgespräche an. Zusätzlich wird auch eine juristische Beschwerdeführung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz angeboten, die aufgrund des Gesetzeswortlauts jedoch Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende bisher leider noch nicht einschließt. Themis setzt sich gemeinsam mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und anderen Sozialverbänden dafür ein, dass diese Regelungslücke schnellstmöglich geschlossen und der Schutz des AGG ausgeweitet wird. Trotzdem können sich alle Freiberufler*innen, Ehrenamtliche und Studierende gerne an Themis wenden, um eine juristische Ersteinschätzung oder psychologische Unterstützung zu bekommen. Übrigens: Die Vertrauensstelle wird zu 40% von der Staatsministerin für Kultur Claudia Roth gefördert, der Rest wird durch Mitgliedsverbände und Spenden abgedeckt. Das heißt, sie agiert transparent und unabhängig und ist in keiner Weise von Weisungen ihrer Mitgliedsverbände und Spender*innen abhängig. 

Die Ombudsstelle – die „Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung“ des Landes Berlin kam aufgrund des Antidiskriminierungsgesetzes (LADG) 2020 zustande. Das LADG schützt bei Diskriminierung, die von Berliner Behörden und Berliner öffentlichen Einrichtungen, also auch Hochschulen ausgeht. Sie bietet Betroffenen eine Anlaufstelle, die eine kostenlose, unabhängige und vertrauliche rechtliche Einschätzung des Falles nach dem LADG gewährleistet. Die Ombudsstelle handelt nicht nach dem Strafrecht, sondern agiert im Privatrecht, d.h., die Beweispflicht liegt bei den Täter*innen. Vonseiten der Betroffenen braucht es keine strafrechtlich relevanten Beweise, hinreichende Indizien genügen. Besonders im Falle sexualisierter Gewalt, wo es selten Beweise gibt, ist das wichtig.

Deutschrapmetoo ist eine Initiative, die Betroffene von sexualisierter Gewalt innerhalb der Deutschrapbranche miteinander vernetzt. Menschen haben die Möglichkeit, DRMT ihre Erlebnisse zu schildern, diese werden gesammelt und anonymisiert veröffentlicht. Außerdem werden Betroffene bei Bedarf an Psycholog*innen oder Jurist*innen weitergeleitet. DRMT versteht sich als Sprachrohr für die Perspektive von Betroffenen sexualisierter Gewalt. 

Safe the Dance ist eine Agentur für Awareness, Inklusion, Diversity  und Musikindustrie Know-how. Sie hält Schulungen und Ressourcen bereit, hält Vorträge und Workshops und kuratiert und produziert Events.

Queer Cheer – Community für “Jazz” and Improvisierte Musik – ist ein in Berlin gegründetes Kollektiv für queere Musiker*innen. Queer Cheer setzt sich mit intersektionalem Ansatz für die Sichtbarkeit queerer Musiker*innen ein, sowie für Interdisziplinarität und Multiperspektivität  in der Kunst.

Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen: die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V. (bukof) schägt darin 10 Maßnahmen vor, um angehende Künstler*innen aller Sparten bestmöglich zu schützen.

„Sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext – Herausforderungen, Umgangsweisen und Prävention“ von Sabine Blackmore und Heike Pantelmann: Dieses Werk ist eine orientierende Handreichung für alle, die im universitären und/oder Forschungsbereich arbeiten, Personalverantwortung tragen, die Entwicklung von akademischen Einrichtungen begleiten und nicht zuletzt für all jene, die von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt in hochschulischen Kontexten direkt betroffen oder ihr indirekt begegnet sind. Im Beitrag Kunst braucht Nähe. Nähe braucht Regeln. Vom professionellen Umgang mit Grenzen in der musikalischen Ausbildung an Musikhochschulen von Antje Kirschning wird z.B. gezeigt, wie die Hochschulstrukturen und der alltägliche Umgang Grenzüberschreitungen, Diskriminierung und Machtmissbrauch begünstigen. Dies geschieht durch überzogenen Leistungsdruck und Angstmachen als didaktisches Mittel, fehlende Bewertungskriterien, intransparente Auswahlverfahren, unreflektiertes Übernehmen von sexistischen Schönheitsidealen, ein fehlendes normatives Gerüst mit gemeinsam vereinbarten Grundwerten, fehlende pädagogische Vor- und Weiterbildung von Lehrenden sowie Versperrung von Zugängen und Netzwerken. Präventive Maßnahmen müssen verhindern, dass hierarchische Situationen ausgenützt und Abhängigkeiten missbraucht werden. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Frauenbeauftragte, die zu Grenzüberschreitungen und sexualisierter Belästigung ausdrücklich auch Männer und nicht-binäre Menschen berät, empfiehlt die Autorin verpflichtende Weiterbildungen für Lehrende zum Ausbalancieren von Nähe und Distanz und mehrsprachige, unbenotete Seminare für Studierende zum Umgang mit körperlichen und seelischen Grenzen. Abschließend werden drei Vorschläge zur Prävention von Machtmissbrauch, sexualisierter Belästigung und Gewalt gemacht, die über die Hochschulen hinaus in die Kulturbranche hineinwirken würden: Verhaltenskodizes, eine bundesweite Aufklärungskampagne sowie der Einsatz von Intimitätskoordinator*innen.

Online-Broschüre „#HackSexism – Strategien und Maßnahmen gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt auf Festivals & Co“: In der Broschüre werden die Ergebnisse eines im April 2021 stattgefundenen „Social Hackathon“ und eines öffentlichen Calls gebündelt, um den Diskurs zu Sexismus und sexualisierter Gewalt auf Festivals weiter voranzutreiben. Die Broschüre verfolgt zwei Ziele: „All denen Raum und Sichtbarkeit geben, die am Social Hackathon mitgehackt und drei Tage lang intensiv die Köpfe zusammengesteckt haben, um zu diskutieren, an Problemen zu arbeiten, sich zu vernetzen, auszutauschen, zu informieren und weiterzubilden. (…) Außerdem wollen wir dieses Wissen für Festivalbetreibende zugänglich und nutzbar machen. In dieser Broschüre findet sich ein großer Wissens- und Erfahrungsschatz, der unterschiedliche Themen und Perspektiven zu den Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt umfasst. Natürlich sind diese Ergebnisse auf eine Weise unvollständig – Awarenessarbeit, und damit die Bemühung Orte für alle sicherer zu machen, ist ein immerwährender Prozess – aber sie sind eine Sammlung von Eindrücken, Denkansätzen, Ideen für Maßnahmen und damit wertvolles nutzbares Wissen für die praktische Festivalarbeit. Wir wünschen uns, dass dieses Wissen aktiv genutzt und in die Praxis umgesetzt wird. Damit Festivals für alle sicherer werden“.

(Fotos: picjumbo.com, Anete Lusina)

Autorinnen: Verena Höfle & Mane Stelzer

Vol. 1: MELODIVA Lesung & Talk 04.05.2022 frankfurtersalon

Jazzmusikerinnen* und all female Bands waren schon immer da, aber ihre Bedeutung wurde in der Jazzgeschichtsschreibung zu wenig gewürdigt – das ist eines der Statements, mit dem die Jazzmusikerin und Musikwissenschaftlerin Dr. Monika Herzig (Hg.) aus ihrem Beitrag zum kommenden Sammelband „Jazz & Gender“ (Routledge, VÖ: Juni 22) ins Thema einführte. Sie spannte einen Bogen von den frühen all female Bands wie The International Sweethearts of Rhythm, die während des Zweiten Weltkriegs eine Blütezeit erlebten, zur Figur des Alpha Girl im Postfeminismus der 80er und 90er Jahre: Die Frau, die sich gegen Ungerechtigkeit im patriarchalischen System aussprach, wurde als altmodische Männerhasserin dargestellt, was die Macht der Zusammenarbeit von Frauen als Gruppe negierte und so systemerhaltend wirkte. Vorherrschend war die Vorstellung, die Frauen müssten einfach beweisen, dass sie besser sind und es den Männern zeigen; jede Frau würde dann ihren Platz am „Tisch“ bekommen. Erfolgreiche Jazzmusikerinnen wie Tia Fuller, Ingrid Jensen und Terri Lyne Carrington sprachen sich in Interviews von damals noch dagegen aus, das Thema Frau-Sein in der Musik zum Thema zu machen. Heute sind sie längst selbst in Sachen Gendergerechtigkeit aktiv; Carrington gründete 2018 das The Berklee Institute of Jazz and Gender Justice und Ingrid Jensen hat eine eigene all female Supergroup Artemis gegründet.

Hürden bis heute

Tokenism

Zu den Problemen, die bis heute bestehen, gehöre der sogenannte „Tokenism“: eine alibi- und symbolhafte Inklusion von unterrepräsentierten Gruppen, die echte Gleichberechtigung nicht ersetzen kann. Musikerinnen* machen immer noch die Erfahrung, dass es bei Festivals in der Vorstellung der Programmplaner*innen einen weiblichen Slot gibt, um den alle Frauen konkurrieren müssen. So wird der Wettbewerb unter den Musikerinnen* noch verstärkt und Zusammenarbeit und Solidarität werden erschwert. Häufig gibt es eine Supergroup, die auf alle Festivals eingeladen wird, anstatt eine Vielfalt von Bands mit weiblicher* Beteiligung ins Programm einzubinden.

Stereotypen

Eine weitere wichtige Ursache für die Unterrepräsentanz von Frauen im Musikbusiness sieht Herzig in den Stereotypen, die in der Gesellschaft wirken. Dazu führt sie Claude Steeles Whistling Vivaldi: How stereotypes affect us and what we can do (2011) an. Er zeigt, dass sich Leistungen je nach den Erwartungshaltungen ändern. Weibliche Probandinnen, die im Vorfeld eines Mathetests mit der Aussage konfrontiert wurden, dass Frauen nicht gut in Mathe seien, erbrachten schlechtere Leistungen aufgrund dieses negativen Stereotyps. Dieses Phänomen, auch stereotype threat genannt, führt zu Unter- oder Überperformance, nicht zu einer natürlichen Performance.

Instrumentenwahl & „Pubertätsknick“

Ähnlich wie in Deutschland gibt es in den USA laut Herzig eine hohe „Drop Out“-Rate von Mädchen an den Instrumenten: in der Middle School gibt es noch 50% Mädchen in den Bigbands, in der High School nur noch ein Drittel und im College nur sehr wenige. Zwei wichtige Ursachen dafür seien die oft gegenderte Instrumentenwahl (wie z.B. Flöte oder Geige) und die Regelung, dass das Improvisieren in der 7./8. Klasse eingeführt wird, wenn Mädchen sich in der Pubertät stark zurückziehen und eben nicht im Rampenlicht stehen und Risiken eingehen wollen. Bei diesen Chancen, das Solospiel zu üben, versteckten sich die Mädchen eher und hätten dann im Laufe der Jahre das Nachsehen. In dieser Zeit müsste man den Unterricht entsprechend danach ausrichten und z.B. safe spaces wie den „Jazz Girls Day“ anbieten sowie Methoden einbauen, die den Drop Out verhindern. Ein weitere Maßnahme könnte sein, Kinder früher ans Solospiel und die Improvisation heranzuführen, wie es eine Musikerin aus dem Publikum, die Saxofonistin Corinna Danzer empfiehlt. Sie unterrichtet Kinder bereits im Grundschulalter in Improvisation.

Jazz Girls Day in Indiana 2022

In den Staaten sei laut Herzig auch ein Problem, dass alle Jazzbigbands ihre Besten dabei haben wollten, um möglichst viele Trophäen heimzubringen. Das bringe häufig Musiker*innen nach vorn, die sich in den Vordergrund drängten. Eine „Gender In Jazz“-Studie (2019), die über 360 Musiklehrkräfte an Middle und High School Schulen in North Carolina befragte, zeigte zudem, dass Jazzmusikerinnen weniger bemerkenswertes Lob von Pädagog*innen und Kolleg*innen bekamen als ihre männlichen Mitschüler. Eventuell werden sie also weniger gefördert.

Fehlende Role Models

Ein weiteres Thema des Abends war das Fehlen von Role Models, wie es sich überall zeigt. Bis heute gibt es zum Beispiel nur eine Instrumentalprofessorin im Bereich Jazz in Deutschland, in den USA sind die Zahlen nicht viel besser. „Du musst jemanden sehen, der so aussieht wie du, damit du erkennst: ja, ich hab da einen Platz, ich kann das auch machen“, so Herzig. In diesem Kontext übernähmen die all women groups weiterhin vielfältige Funktionen: sie bieten Support und eine Gemeinschaft ohne Druck und wirken gegen gängige Stereotypen (perceptions). Mehr noch: der Anspruch des Jazz als demokratische Kunstform kann eigentlich erst verwirklicht werden, wenn alle am Schaffensprozess beteiligt werden. Herzig zitierte dazu Janiece Jaffes Ausspruch “Equality does not mean sameness” (Gleichberechtigung bedeutet nicht, dass man gleich sein muss): „Ziel des Integrationsprozesses ist ein Kulturwandel, der weg von der Stereotypisierung von Instrumenten und Fähigkeiten geht und den gemeinschaftlichen Aspekt des Musizierens im Jazz statt Männlichkeits- und Konkurrenzdenken kultiviert“.

Was noch zu tun ist…

Von links: Monika Herzig, Johanna Schneider, Nina Hacker, Maria Bätzing (Moderation)

Im anschließenden Talk mit der Frankfurter Jazzbassistin und Instrumentalpädagogin Nina Hacker wurde das Thema Nachwuchsarbeit vertieft. Hacker unterrichtet an der Musikschule Frankfurt und betreut niedrigschwellige Schuljazz- und Bandprojekte wie „Jazz und Improvisierte Musik in die Schule“, die jedes Jahr über 4000 Schüler*innen aktiv mit Jazz in Kontakt bringen. Das Dozent*innen-Team sei gemischt, um Stereotypen vorzubeugen. Der zweite Panelgast, die Sängerin, Komponistin und Gesangspädagogin Johanna Schneider aus Essen, erzählte in diesem Zusammenhang von einer befreundeten Posaunistin, die an einer Musikschule unterrichtet. Jedes Jahr würden beim Tag der Offenen Tür die verschiedenen Instrumente vorgestellt; nur wenn sie als Multiplikatorin die Vorstellung der Posaune übernahm und nicht ein Mann, meldeten sich viele Mädchen für den Posaunenunterricht an. Eine Frau aus dem Publikum erzählte von ihren Beobachtungen in einer Junior’s Bigband in Bayern, die aus 6 Jungen und 4 Mädchen im Alter von 12-15 Jahren bestand: Die Jungs wollten z.B. die Person beim Konzert Solo spielen lassen, deren Solo das beste gewesen sei oder mit einem Neuling gleich das schwerste Stück spielen, um ihn zu testen. Durch die Intervention der Mädchen wurde das unterbunden, die sich anbahnenden Konkurrenzsituationen entschärft. Das zeigt, dass eine gemischte Gruppe als Sozialgefüge ganz anders tickt.

Nina Hacker bietet auch Projekte nur für Mädchen* als safe spaces an. Sie erzählte, dass nur sehr wenige Instrumentalistinnen bei den Schülerjazz-Ensembles mitmachen würden, weil die Musiklehrer*innen eher die Jungs dafür vorschlugen. So hätte sie im letzten Herbst mit ihren Kolleg*innen entschieden, Jazzworkshops für Mädchen* anzubieten, die sehr guten Zulauf hatten.

Johanna Schneider, die kürzlich für den Vorstand der Deutschen Jazzunion wiedergewählt wurde und dort u.a. in der AG Gender & Diversity aktiv ist, machte am Abend die anwesenden Musiker*innen auf die Jazzstudie 2022 aufmerksam, die als Anschlussstudie zur Umfrage von 2016 deutlich erweitert ist. Die zweite Auflage will erstmals die Vielfalt der Jazzszene und mögliche Diskriminierungen in den Blick nehmen, und auch Aufschluss über das Wohlbefinden und die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Situation der Musiker*innen bekommen. Noch kann frau daran teilnehmen.

Außerdem ist sie Co-Initiatorin des Jazzkollektivs PENG und des gleichnamigen Festivals, das auch in diesem Jahr im Herbst stattfinden wird. Sie beschrieb, dass das PENG Festival zuerst gegründet wurde, um Frauen* zu fördern und herausragende, regionale und internationale Künstler*innen auf die Bühne zu bringen. Das Organisations-Kollektiv habe bewusst einen neutralen Namen gewählt und nicht auf das Frau*-Sein hingewiesen. So schaffte es das Festival, Erwartungshaltungen und Stereotype zu verändern – eben durch eine starke und vielfältige weibliche Präsenz auf der Bühne, ohne im Vorhinein zu polarisieren. Inzwischen verfolgt das Festival einen intersektionalen Ansatz, es will „einen Rahmen schaffen, der frei ist von jeglichen Strukturen der Unterdrückung, Macht und Dominanz“ (Homepage). Auch die bewusste Wahl des Ortes soll mehr Teilhabe ermöglichen: das Festival findet im eher unterprivilegierten Norden von Essen statt.

In der Diskussion mit dem Publikum ging es schließlich auch darum, wie wichtig die Musikpädagogik in Schule und Hochschule (und die Ausstattung mit Personal) ist und was geändert werden müsste, damit eine musikalische Karriere in der Klassik & im Jazz nicht wenigen Wohlhabenden vorbehalten bleibt. Der Zugang zur Musik sei auf der einen Seite nicht einfacher geworden, auf der anderen Seite habe es aber auch nicht mehr so einen großen Stellenwert, z.B. in die Oper oder ins Jazzkonzert zu gehen wie früher – das Publikum sei durchweg relativ alt. Auch bräuchte es viele gute und engagierte Menschen in den Schulen, die in den Kindern und Jugendlichen die Liebe zur Musik wecken und pflegen. Dazu müssten aber auch die Rahmenbedingungen, vor allem die Bezahlung und Wertschätzung in der Gesellschaft, verbessert werden.

Ein weiteres Thema war die Vereinbarkeit von Karriere & Familie. Schneider erzählte, dass viele Kolleginnen ihren eigentlichen Anspruch, weiterzuarbeiten und ihre Musikkarriere mit Familie weiterzuverfolgen, gar nicht hätten durchhalten können. Konzertgagen sind häufig so niedrig, dass sie für das Babysitting draufgehen. Der Mann verdient immer noch meist mehr, sodass die Frauen dann doch wieder zuhause mit der Kinderbetreuung allein gelassen würden. Herzig führte ihre Beobachtung an, dass die meisten ihrer Kolleginnen mit Jazzmusikern verheiratet seien.

 

Vol. 2: Jazz Montez Talks & Konzert 06.05.2022 Kunstverein Familie Montez

Zwei Tage später drehte sich bei der Veranstaltung unseres Koop-Partners Jazz Montez alles um die Wechselwirkung zwischen Jazz und Demokratie. Was kann unsere Demokratie vom Jazz lernen, was macht eine gute Jazzsession aus und was ist das Faszinierende am Jazz, fragte das erste Panel mit der Sängerin Fiona Grond, dem Schlagzeuger und Dozent an der HfMdK Oli Rubow und dem DJ und Journalisten Michael Rütten. Ein häufig genannter Satz fing mit „im Idealfall…“ an: im Idealfall hörten alle Musiker*innen aufeinander, ließen sich gegenseitig Raum, erzeugten glücklich machende Musik. In der Realität gäbe es aber auch die Alpha-Menschen, die sich mit ihren Soli produzierten und für die Begegnung mit den Anderen gar nicht offen seien, was die Session schrecklich langweilig mache.

Das zweite Panel mit Johanna Schneider, dem Orchestermanager der hr-Bigband Olaf Stötzler und mir (Mane Stelzer (MELODIVA, Singer-/Songwriterin)) trug den Titel „Jazz in Deutschland – Eine elitäre Veranstaltung?“ und befasste sich vor allem mit den Zugangshürden und Ausschlüssen in der Jazzszene. Stötzler versicherte, dass ihnen bewusst sei, dass sie als rein männliche Bigband ein bisschen aus der Zeit gefallen seien. Es scheitere nicht am guten Willen, sondern daran, dass sich zu wenige Frauen bewürben und gegen die Konkurrenz durchsetzen könnten. Auf die letzte Ausschreibung hin hätten sich von insgesamt 58 Bewerber*innen nur zwei Musikerinnen beworben, deren Audiofiles dann in einer Art „Blind Audition“ angehört wurden. 12 Bewerber kamen in die Vorauswahl und wurden für eine Audition eingeladen; und obwohl darunter nicht die zwei Bewerberinnen waren, wurden diese dann trotzdem „live“ angehört. Eingestellt wurde dann aber ein Mann.

An gutem Willen fehlt es also nicht – wohl eher ein genaueres Hinschauen. Es könnte auch an der Art der Ausschreibung, der Außenwirkung und Ausrichtung der Bigband oder praktischen Gründen wie Tour- und Probezeiten usw. liegen, dass sich so wenige Musikerinnen* bewerben. Wir nehmen uns vor, dem auf den Grund zu gehen und bei den Jazzmusikerinnen* in unserem Netzwerk genauer nachzufragen. Schreibt uns gern eine Mail mit eurer Meinung und euren Erfahrungen!

Um zu zeigen, wie Kommunikation im Jazz zwischen Musiker*innen funktionieren kann, waren für die anschließende Session sechs großartige Instrumentalist*innen eingeladen, die noch nie in dieser Formation zusammengespielt hatten und den Auftrag bekamen, gemeinsam zu den Themen des Abends zu improvisieren. Neben Johanna Klein (Saxofon, Effekte), Franziska Aller (Bass) und Johanna Schneider (Vocals) waren das Darius Blair (Saxofon), Lukas Wilmsmeyer (Gitarre), Biboul Dariouche (Percussion) und Oli Rubow (Schlagzeug). Sie ließen sich von Begriffen inspirieren, die die sechs Panelgäste im Vorfeld nennen durften und die jeweils einer anderen Farbe zugeordnet wurden. Das wechselnde Scheinwerferlicht läutete so immer einen neuen Part ein und setzte Begriffe wie Ehrlichkeit, Neugier, Respekt, Aktivität, Vertrauen und Erdung musikalisch in Szene. Grandios!