Jutta Hipp – Pianistin, Poetin und Malerin

eine wahre Blue Note Legende

Jutta Hipp (4.2.1925-7.4.2003) gilt als wegweisende Jazzpianistin Anfang der 50er Jahre im Nachkriegsdeutschland. Sie zeigt, dass Jazz ein Lebensgefühl ist und keine Geschlechterfrage, denn sie spielt mit den Jazzgrößen ihrer Zeit zusammen. Jutta ist es, die in der damals männerdominierten Jazzszene zur besten Jazzpianistin gewählt wird und als First Lady of European Jazz auch in der New Yorker Jazzszene einen kometenhaften Aufstieg hinlegt.

Als erste weiße, deutsche Frau veröffentlicht sie bei der renommierten Plattenfirma Blue Note gleich drei Einspielungen unter ihrem eigenen Namen. Eine Sensation und zwar auf beiden Seiten des Ozeans Mitte der Fünfziger Jahre.
Einige Jahre später wird sie nicht mehr auf den Bühnen zu sehen und zu hören sein. Sie wird sich das Klavierspielen ganz abgewöhnen, die Jazzbegeisterung aber niemals und ihre Kreativität wird sie auf Poesie und überwiegend auf Malerei verlagern. Ihr tägliches Brot verdient sie in einer Kleiderfabrik als Näherin.
Was war geschehen? Doch beginnen wir mit den Anfängen.

Jutta Hipp wird am 4. Februar 1925 in Leipzig geboren und erhält im Alter von 9 Jahren Klavierunterricht bei einer Kirchenorganistin. Der erste Freund führt die Fünfzehnjährige zum Jazz, sie beginnt enthusiastisch Platten zu sammeln. Fats Waller, Count Basie und Jimmy Lunceford waren ihre Idole. Während ihres Studiums an der Akademie für graphische Künste, beginnt sie selber zu improvisieren und tritt als Amateurin in einer Jazzband im Leipziger „Hot Club“ auf. Heimlich hört sie die von den Nazis verbotenen Radiosender, vor allem Radio Hilversum und BBC London.

„Ich sehe noch immer ihre kleine Figur vor dem gewaltigen schwarzen Flügel, dessen Gewicht sie mit ihren Fingerspitzen aufzuheben schien, mit den Perlenschnüren der Töne, die von störrischen Akkorden abgeschnitten und wieder eingefädelt wurden, in jenem Strom, den wir Swing nannten. In dieser Stadt lebte ein Wunder, eine Musik, wie ich sie nur von weit her, von Teddy Wilson kannte. Im Krieg, im verdunkelten Zimmer notiert sie im Licht des Radioempfängers Jazzthemen, saugt die Musik auf. Jazz, die Botschaft aus weiter Ferne, ein Mythos auf schwarzen Schellackplatten oder oft gestörten Rundfunksendern der BBC.“ (Julius Becke: Really the Blues)

Der Jazz wird für Jutta zum (Über)Lebenselexier. In einem Brief an einen amerikanischen Soldaten schreibt sie nach Kriegsende:

„Sie werden nicht in der Lage sein dies zu verstehen, weil sie dort geboren sind. Aber für uns ist Jazz eine Art Religion. Wir mussten wirklich dafür kämpfen. Ich erinnere mich an Nächte, wo wir nicht in den Luftschutzkeller gingen, weil wir Platten hörten. Wir hatten einfach das Gefühl, dass ihr nicht unsere Feinde seid. Und obwohl die Bomben um uns herum einschlugen, fühlten wir uns sicher oder zumindest, wenn wir getötet worden wären, wären wir mit schöner Musik gestorben.“

Erste Auftritte nach dem Krieg

Nach dem Krieg kann Jutta sich öffentlich zum Jazz bekennen, nach der Befreiung durch die Amerikaner bieten sich in Leipzig auch Auftrittsmöglichkeiten. Das Blatt wendet sich nachdem die Russen einmarschieren. Für Jutta eine schlimme Wende, denn sie empfindet alles als grau in grau, vor allem für den Jazz, und ihre zeichnerischen Fähigkeiten werden nun für Propaganda der Roten Armee gefordert. Jutta flieht mit ihrem Freund und dem Sohn ihres Kunstprofessors bei Nacht und Nebel über die Grenze in den Westen. Beide Männer werden später wieder zurück nach Leipzig gehen, Jutta bleibt allein im Westen und schlägt sich durch. Zunächst am Tegernsee, dann spielt sie in München in amerikanischen und deutschen Clubs und tritt mit Freddie Brocksieper, Charlie Tabor und Hans Koller auf. Im November 1948 wird ihr Sohn Lionel geboren, den sie in die Obhut eines Kinderheimes geben muss, da sie nicht für ihn sorgen kann. Der Vater von Lionel, ein schwarzer GI, darf nach damaligen Bestimmungen die Vaterschaft nicht anerkennen. Vielleicht spielt nicht nur die eigene Existenzangst als alleinerziehende Mutter, sondern auch die Diskriminierung der „Brown Babies“ und ihrer Mütter im Nachkriegsdeutschland eine Rolle für Juttas Entscheidung, ihren Sohn nicht selbst zu erziehen.

1952 zieht sie zusammen mit Hans Koller nach Frankfurt. Die amerikanischen Clubs der US Armee bieten den jungen Jazzern in Frankfurt gute Jobs und Auftrittsmöglichkeiten. Die Koller Band ist mit Albert Mangelsdorff (Posaune), Shorty Röder (Bass) Rudi Sehring/Karl Sanner (Schlagzeug) und Jutta Hipp (Piano) „up to date“, wird dem Cool Jazz und dem Einfluss der „Lennie Tristano Schule“ zugeordnet. Im März 1953 waren die Hans Koller New Jazz Stars der Opening Act für Dizzy Gillespie Frankfurt. Es folgen Radioaufnahmen, Konzerte und weitere Einspielungen.

Jutta gründet 1953 ihr eigenes Jutta Hipp Quintett mit Emil Mangelsdorff (Altsaxophon), Joki Freund (Tenorsaxophon), Hans Kresse (Bass) und Karl Sanner (Schlagzeug) und mit Gastsolisten wie Albert Mangelsdorff (Posaune), Carlo Bohländer( Trompete) und Attila Zoller (Gitarre). Der Jazz „Frankfurter Prägung“ findet große Anerkennung in Deutschland. Es entstehen die Kompositionen Mon Petit (höchstwahrscheinlich ihrem Sohn Lionel gewidmet), Variations, Two Oranges und Cool Talk. Durch einen amerikanischen Soldaten finden Schallplatten und Rundfunkaufnahmen auch den Weg zu dem New Yorker Jazzkritiker und Musik-Manager Leonard Feather. Dieser ist von Juttas Spielweise sehr beeindruckt und ist an einem Treffen interessiert. Auf einer Europa Tournee 1954 mit Billie Holiday mit Station in Düsseldorf, macht sich Leonard Feather auf die Suche nach Jutta Hipp und findet sie in Duisburg in Gigi Campis Kellerclub „Bohème“:

„Finding her was a problem, but on reaching Düsseldorf we learned that she was leading her own quintet in Duisburg. As we entered a crowded cellar club in Duisburg, music floated up to our ears that we could hardly believe was the work of five Germans. Surrounded by alto und tenor saxes, bass and drums, an attractive girl sat at the piano, her auburn hair hanging loose down her back; she was completely absorbed in the music, apparently oblivious of the noisy crowd around her. Juttas’s American visitors were all amazed almost beyond belief. To encounter the finest European jazz we discovered this far, played in a country that had been deprived of the sight and sound of real jazz during so many years of Nazism and war- this was incredible.“

Aber so unglaublich war es ja nicht, denn es gab sie ja. Die Musiker, die unter der Gefahr der Verfolgung im Faschismus mutig und trotzig Jazz hörten, ihn spielten und nach dem Krieg den Jazz in Deutschland gesellschaftsfähig machen.
Jutta erhält von Leonard Feather 1954 eine Einladung nach New York. Bis sie sich zur Übersiedlung entschließt und die nötigen Papiere beschafft sind, vergeht mehr als ein Jahr. Während dieser Zeit tourt Jutta durch Deutschland, Schweden, Dänemark und Jugoslawien und verschafft sich dadurch noch mehr Popularität in der europäischen Jazzszene.

Übersiedlung in die USA

Auf der anderen Seite des Ozeans bereitet Leonard Feather die Ankunft des „deutschen Fräuleins“ werbewirksam vor. Die in Frankfurt 1954 eingespielte Schallplatte des Jutta Hipp Quintetts wird im Februar 1955 vom Blue Note Label als New Faces – New Sounds from Germany: Jutta Hipp and Her Quintet herausgebracht. Allerdings wird Jutta erst im November 1955 in New York ankommen und noch einige Monate auf die Arbeitserlaubnis als Musikerin warten müssen. New York, die damalige Metropole des Jazz, gibt Jutta die Hoffnung, mehr künstlerische Freiheit zu erlangen, mit den besten Jazzmusikern der Welt zusammen zu spielen zu können und weiter zu lernen. Die Musik zu leben, an der ihr Herz hängt.

Horace Silver, gezeichnet von Jutta Hipp

Jutta ist von Horace Silver schwer beeindruckt und besonders sein Jazz-Trio nimmt Einfluss auf ihre weitere Spielweise. Es entsteht die Komposition Horacio, ein Wortspiel von Horatio und Horace, sozusagen als Tribute ihres großen Vorbildes Horace Silver und der Tatsache, dass sie im Village in der Horatio Street 47-49 wohnte (auch Jay Cameron, Paul und Carla Bley und Tommy Wayburn wohnten dort). Die Horatio Street 47-49 wird zum kreativen Treffpunkt der Jazzszene. Jay Cameron und Jutta besorgen ein altes Klavier von einer Kirchengemeinde und im Keller des Hauses Horatio Street 47-49 werden regelmäßig Jam Sessions abgehalten. Viele Jazzgrößen tummeln sich dort wie z.B. Zoot Sims, Bill Evans, Paul Motion, Ira Sullivan, Stan Getz und viele andere.

Sie erhält im März 1956 ein sechsmonatiges Engagement im „Hickory House Club“ und spielt während dieser Zeit drei Platten ein. (Jutta Hipp At the Hickory House Vol 1 und 2 und Jutta Hipp with Zoot Sims). Die deutsche Jazz Welt denkt: nun hat sie es geschafft. Aber es kommt ganz anders. Ende der Fünfziger ist die materielle Situation für Musizierende in New York allgemein schlecht. Viele Clubs schließen und auch Jutta muss nach dem Engagement im „Hickory House Club“ annehmen, was kommt. Eine Herausforderung, aber auch ein harter Kampf.

CD Jutta Hipp, At The Hickory House, 1956 Blue Note

CD Jutta Hipp, With Zoot Sims, 1956 Blue Note

Selbst berühmte Namen wie Sonny Stitt, Paul Motion, Zoot Sims, James Moody, John Coltrane und Charlie Mingus, mit denen sie spielt, verhelfen ihr nicht zu einem erträglichen Einkommen. Die Anfeindungen von Kollegen und die eigene Unsicherheit mit der Konkurrenz mitzuhalten, werden zu einem mörderischen Existenzkampf, in dem sich Jutta nicht mehr behaupten will. Es gibt Streit mit Managern und ihre persönlichen Beziehungen zerbrechen. So kommt eins zum anderen. Der Rückgang der Engagements, Lampenfieber, Existenzangst und ein massives Alkoholproblem führen zu der Entscheidung, einen ganz normalen Job als Schneiderin in einer Kleiderfabrik anzunehmen. Nun spielt sie nur noch vereinzelt am Wochenende, schließlich verebben auch diese Jobs. Ab dieser Zeit gewöhnt sie sich das Nachtleben, das Trinken und schließlich das Klavierspielen ganz ab. Vom Druck befreit fühlt sie sich besser und wendet sich der Malerei zu, bleibt aber eine enthusiastische Jazz-Hörerin und -Kennerin, und verlagert ihre Kreativität in die Malerei. Jutta ist nie mehr wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Jutta Hipp hinterlässt ein facettenreiches künstlerisches Schaffen innerhalb der Jazzmusik, der Poesie und der Malerei. Ihre Musik ist durch Schallplatten und Rundfunkaufnahmen dokumentiert. Juttas Stil reicht von Vergleichen mit Fats Waller, Eroll Garner, Teddy Wilson, Lennie Tristano bis hin zu Horace Silver. Jedoch ohne einen eigenen Stil entwickelt zu haben, wäre sie wohl kaum von Leonard Feather nach New York geholt worden. Ihre besondere fughuetthafte kontrapunktische, melodiöse und luzide Spiel-Art sticht hervor, wird zur Kunstform des Cool Jazz Frankfurter Prägung und ist unverkennbar auch auf ihren amerikanischen Blue Note Einspielungen zu hören. Später bekräftigt sie, dass sie den Cool Jazz Stil nur gespielt hätte, da dies in Deutschland und in Amerika von ihr verlangt wurde. Ihr Herz brenne für den Rhythm & Blues sowie Hard Swinging Style. Trotzdem: herausragend bleibt ihr persönlicher, cooler Style.

Zeichnungen und Gedichte über Jazzgrößen ihrer Zeit heben haargenau ihre Charaktere hervor, ihre Aquarelle – mehr als 200 an der Zahl – sind in New York und Deutschland in privaten Besitzen und Galerien zu finden.

Tribute an Jutta Hipp

Ilona Haberkamp und Jutta Hipp

Im Jahr 1986 machen sich die Autorin und Musikerin Ilona Haberkamp und Iris Kramer („Reichlich Weiblich“) auf den Weg nach New York, um Jutta Hipp persönlich kennenzulernen und mehr über sie zu erfahren. Was sie dabei erlebt haben, welche Beweggründe die beiden Musikerinnen hatten und wie das ihre musikalische Entwicklung beeinflusst hat, darüber berichten wir in einem zweiten Report demnächst.

Ein Ergebnis ist aber die Entstehung des Albums „Cool is Hipp is Cool“ als Tribute an Jutta Hipp zum 10. Todestag mit dem Ilona Haberkamp Quartet feat. Ack van Rooyen und Silvia Droste, das gerade erschienen ist.

Titelfoto: Hans E Haehl

Autorin: Ilona Haberkamp

19.06.2013